Süddeutsche Zeitung

Vor Gericht:Mordversuch mit "Teilskalpierung"

  • In Essen stehen elf Männer und zwei Frauen vor Gericht. Sie sind Mitglieder einer syrischen Großfamilie.
  • Die Angeklagten sollen versucht haben, einen 19-Jährigen zu skalpieren und zu ermorden.
  • Das Opfer hatte eine Beziehung mit einer bereits verheirateten Frau aus der Großfamilie.

Von Jana Stegemann, Essen

Mit 75 Minuten Verspätung beginnt an diesem Dienstagmorgen der Prozess am Essener Schwurgericht. Der Stau auf Nordrhein-Westfalens Straßen hat den Transport der zehn inhaftierten Angeklagten verzögert. Und dann sitzen alle ja auch noch getrennt voneinander in U-Haft in verschiedenen Justizvollzugsanstalten. Die strikte Trennung soll Absprachen während des Prozesses erschweren. Das Verfahren aber bedeutet nicht nur einen immensen logistischen Aufwand, auch die Sicherheitsvorkehrungen in Essen sind außergewöhnlich hoch.

Einer der Tatverdächtigen befindet sich im Zeugenschutzprogramm, er kommt in Begleitung mehrerer Polizisten in Sturmmasken in den Saal.

Angeklagt sind insgesamt elf Männer und zwei Frauen einer syrischen Großfamilie zwischen 23 und 47 Jahren, denen ein "gemeinschaftlich geplanter, heimtückischer Mordversuch" vorgeworfen wird. Vier von ihnen müssen sich wegen Beihilfe vor Gericht verantworten.

Die Tatverdächtigen sollen vor acht Monaten versucht haben, einen 19-jährigen Syrer auf dem heruntergekommenen Hinterhof eines Getränkemarkts in Essen zu ermorden. Es gelang ihnen nicht, weil eine Nachbarin vom Balkon aus die Polizei verständigte und sich das schwer verletzte Opfer auf eine nahe Straße schleppen konnte. Der junge Mann musste notoperiert werden.

Die Männer sollen ihm in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 2018 nahe seiner Wohnung aufgelauert haben. Fünf schlugen ihn laut Anklage mit Knüppeln und Holzlatten, traten ihm immer wieder gegen den Kopf. Einer stach ihm demnach mit einem Messer in den Unterbauch, versuchte ihm das Ohr abzuschneiden. Die anderen feuerten ihn an. Der Überfall wurde gefilmt - als Beweis für andere Verwandte. Auf den beiden Videosequenzen ist zu hören, wie ein Mann ruft: "Ich werde einen Teil von seinem Kopf abschneiden!" Die Rechtsmediziner stellten später "eine Teilskalpierung" fest.

"Die Videos sind so schrecklich, ich konnte das zweite nicht bis zum Ende schauen", sagt der Essener Rechtsanwalt Aykan Akyildiz, der das Opfer vertritt.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Mohammad A. sterben sollte, weil er eine Beziehung mit einer Frau aus der Großfamilie hatte. Die heute 19-jährige Kurdin Sina M. war zu diesem Zeitpunkt aber bereits nach islamischem Ritus mit dem Cousin ihrer Mutter, Dlovan B., verheiratet. Das Paar kam 2015 nach Deutschland, lebte sich in einer gemeinsamen Wohnung in Essen auseinander. Dann lernte Sina M. mit 17 Jahren in einer Berufsschule Mohammad A. kennen, sie verliebte sich in ihn, er half ihr bei der Wohnungssuche für ihre Familie.

Verwandte warfen Sina M. und ihrem Freund "Ehebruch" vor

Eineinhalb Jahre sollen die beiden ein Paar gewesen sein, Sina M.s Eltern sollen von der Beziehung gewusst und sie geduldet haben. Auch Dlovan B. hatte wohl längst eine neue Freundin. Doch irgendwann seien Fotos des Paares in sozialen Netzwerken aufgetaucht, Sina M.s Mutter selbst ging mit den Aufnahmen zu Verwandten.

Schnell habe dann der Vorwurf "Ehebruch" im Raum gestanden und der Entschluss der ganzen Familie, etwas zu unternehmen. Auch Dlovan B. beteiligte sich an der Planung. Eine Tante von Sina M. rief Mohammad A. an und sagte ihm, "er und Sina müssen sterben".

Die Staatsanwaltschaft benennt die beiden Frauen - die Mutter und die Tante von Sina M. - als Mittäterinnen des Mordkomplotts. Beide sollen die Männer der Familie aufgehetzt und angewiesen haben "von ihrer Schaltzentrale, einer Wohnung in Viersen aus", heißt es in der Anklage. Am Tatort seien sie zwar nicht aufgetaucht, hätten aber den Tod Mohammad A.s verlangt. Ende Mai 2018 habe die Mutter, Muzgin M., sinngemäß geschrieben: "Es gebe Probleme mit Sina, die sie nicht alleine lösen könnte", zitiert die Staatsanwältin. In anderen Nachrichten habe gestanden, dass "es um die Ehre gehe".

Beim Prozessauftakt fehlen Sina M. und Mohammad A.

Die 39-jährige Muzgin M., eine kleine, füllige Frau mit khakifarbenem Kopftuch, weint, als sie zu ihrem Platz im vollen Gerichtssaal gebracht wird, wo an mehreren Tischreihen die 13 Angeklagten und ihre 28 Anwälte und Anwältinnen sitzen. Zwei Plätze neben ihr wartet schon ihre Schwester, sie blickt selbstbewusst in den Saal, trägt ein auffälliges weißes Kopftuch.

Die 47-Jährige aus Naumburg an der Saale eilte Muzgin M. nach deren Nachricht zur Hilfe, ebenso andere Familienmitglieder aus Sachsen-Anhalt. Zwischen 2013 und 2015 sollen die meisten Mitglieder der Großfamilie als Asylbewerber nach Deutschland gekommen sein, gebürtig stammen sie aus dem Norden Syriens.

Der Vorsitzende Richter Jörg Schmitt behält trotz der vielen Menschen im Gerichtssaal mit einer Mischung aus natürlicher Autorität und Ruhrpott-Charme den Saal unter Kontrolle.

Mohammad A. und Sina M. sind nicht zum Prozessauftakt gekommen. Während er sich im Krankenhaus als erstes nach ihr erkundigt haben soll, sagte Sina M. nach dem Überfall der Bild-Zeitung: "Ich hasse ihn. Wegen ihm sitzen meine Eltern im Gefängnis."

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Quelle:
SZ vom 23.01.2019/moge
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