Süddeutsche Zeitung

Familie und Gesellschaft:Lasst die Kinder raus!

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Laut einer britischen Studie dürfen Kinder heute im Schnitt erst mit elf Jahren alleine zum Spielen nach draußen gehen - zwei Jahre später als noch ihre Elterngeneration. Höchste Zeit, ihnen die Türen zu öffnen.

Von Martin Zips

Die Kindheit ist bedroht. Und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wie eine repräsentative Studie aus Großbritannien zeigt, werden heutige Kinder durchschnittlich erst mit elf Jahren von ihren Eltern auch mal unbeaufsichtigt zum Spielen ins Freie geschickt. Als die Eltern selbst noch Kinder waren, durften sie schon mit neun Jahren draußen alleine oder mit Freunden Quatsch machen. Und die Großeltern? Noch früher. Die Auswirkungen, die diese Entwicklung für Körper und Geist der sogenannten "Generation Z" sowie für die Gesellschaft insgesamt darstellt, sie sind noch nicht absehbar.

Fast 2000 Eltern von fünf- bis elfjährigen Kindern wurden für die "British Children's Play Survey" befragt, das Ergebnis ist laut Studienleiterin Helen Dodd, Kinderpsychologin der Universität Reading, eindeutig: Heutige Kinder erhalten im Gegensatz zu früheren Generationen deutlich weniger die Gelegenheit, sich bereits in jungen Jahren auf eigene Faust mit der Außenwelt samt ihren Schönheiten und Gefahren auseinanderzusetzen. Dies führe dazu, dass Kinder auch im späteren Leben Risiken und Gefahren weniger gut einschätzen und verarbeiten könnten. Wer als Kind nur selten alleine oder mit gleichaltrigen Freunden oder Geschwistern unter freiem Himmel unterwegs sei, der leide bald auch psychisch.

Bereits vor der Pandemie habe sich eine ganze Generation, so die Autoren der britischen Studie, in einer Art Dauer-Lockdown befunden. Zu jener Zeit sei es noch die elterliche Angst vor dem Verkehr, vor Sexualverbrechern, Gewalttätern oder der Aufnahme peinlicher Handyvideos durch andere Kinder gewesen, die die Eltern dazu verleiteten, die Haustür fest verschlossen zu halten. Dieser Zustand habe bei vielen Kindern zu Langeweile, Einsamkeit und Antriebslosigkeit geführt. Mit Corona sei die Situation nicht besser geworden.

Lieber alleine drinnen bleiben als alleine rausgehen

Ähnliches hatte schon der im vergangenen Mai von der deutschen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) vorgestellte Kinderreport nahegelegt, in dem als Hauptgrund fürs permanente Drinnenbleiben allerdings aufgeführt wurde, dass den Kindern vor allem gleichaltrige Spielkameraden zum Herausgehen fehlten (so gaben es 54 Prozent der befragten Eltern an). Ach, ist das tatsächlich so? Und glauben diese Eltern wirklich, mit ein paar digitalen Spielchen lasse sich das schon irgendwie auffangen?

Noch etwas wird in der aktuellen britischen Studie aus gutem Grund beklagt. Nämlich dass heutige "Abenteuerspielplätze" vor allem eines seien: sehr, sehr sicher. Für die Entwicklung natürlicher Instinkte sei das allerdings gar nicht hilfreich (für klagefreudige Anwälte hingegen schon). In Deutschland haben indes einige Politiker gerade mehr "Unterricht im Freien" gefordert. Das Problem mangelnder Naturerfahrung jedoch dürfte auch ein von Virologen konzipierter Distanzunterricht auf schachbrettartig verteilten Stühlen im Pausenhof nicht lösen.

Gleichzeitig sind dieser Tage viele Erwachsene dabei, die Natur für sich ganz neu zu entdecken. In hübschen Bildbänden, beim Schauen von Tierdokumentationen oder beim Spaziergang um den Wohnblock. Ein bisschen so, wie es Turnvater Jahn, die Jugendbewegung "Die Wandervögel" oder Manuel Andrack schon getan haben. Und klar, irgendwas scheint uns Naturfreunden schon zu fehlen, etwa im grauen Berlin, wo Kindern in den ärmeren Stadtvierteln rechnerisch nur fünf Quadratmeter pro Person auf einem Spielplatz zur Verfügung stehen, wie eine aktuelle Studie des Deutschen Kinderhilfswerks zeigt. In Vierteln mit deutlich weniger Hartz-IV-Familien sollen es immerhin durchschnittlich 18 Quadratmeter sein. Aber klar, notfalls muss man halt mal mit der S-Bahn ein bisschen rausfahren, um irgendwo einen Baum zu umarmen. Das tut nämlich gut. Haben wir in einem Buch gelesen.

Gerade im angelsächsischen Raum ist derzeit eine ganze Fülle solcher Naturentdeckungsbücher erschienen, zum Beispiel "Losing Eden" von der Journalistin Lucy Jones, wo auf 272 Seiten sowohl wissenschaftlich als auch emotional genauestens eruiert wird, ob Mensch und Natur nicht irgendwie doch deutlich mehr zusammenhängen als Büroarbeiter und Computer (tun sie!). Um der "dysfunktionalen Beziehung" ein bisschen auf den Grund zu gehen, ist die Autorin gar von Kalifornien nach Norwegen gereist, um möglichst viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Thema zu befragen. Danach stand für sie fest: Draußen ist es sogar bei Regen irgendwie besser als drinnen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis war schon die britische Journalistin Isabella Tree (!) in ihrem Buch "Wilding" gekommen. Dort beschreibt sie die Wiederansiedlung von Turteltauben und Kaiserschmetterlingen auf einem zuvor von intensiver Landwirtschaft gepeinigten Gebiet. Ja, so eine Wildnis kann schon ungeheuer spannend sein. Wenn man sie nur entdecken darf.

Bloß nicht zu viel Natürlichkeit im Schrebergarten

Vielleicht begann die menschliche Furcht vor dem elternlosen Alleinsein in der Natur ja mit der biblischen Vertreibung zweier nackter Menschen aus dem Garten Eden. (Die hatten vom Baum der Erkenntnis genascht, na ja.) Oder war es doch Daniel Gottlob Moritz Schreber, der als "Reformpädagoge" einst dem Schrebergarten zumindest indirekt seinen Namen gab? Zu seinen Lebzeiten hatte Herr Schreber noch einige lustige Geräte zur Verhinderung der Masturbation erfunden. Leider ohne Erfolg. Dank ihm hatte die in urbanen Riesenbauten zuvor so eingezwängte Familie des 19. Jahrhunderts bald die Möglichkeit, am Wochenende in ihren Schrebergarten jenseits der Stadttore auszuweichen. Gab sie dort ihrer Natürlichkeit allerdings zu viel Raum, gab's Ärger mit den Nachbarn. Oder mit dem Gesetz.

Dabei sind die Gesetze der Wildnis für den Menschen meist wesentlich erträglicher als die Wildnis seiner eigenen Gesetze. Also: Schickt sie bitte raus, eure Kinder! Möglichst oft, möglichst mit Freunden. Damit sie draußen Erfahrungen fürs Leben sammeln können. Denn sonst geschieht ihnen zwischen Küche und Schreibtisch noch ein Unglück. Und der Gesellschaft gleich mit.

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