Ermordete Michelle:Der Tod und das Mädchen

Im Fall der ermordeten Michelle hat die Leipziger Polizei neue Beweisstücke beschlagnahmt, offiziell aber noch keine heiße Spur.

Christiane Kohl

Das Gelände liegt nicht weit von der S-Bahntrasse entfernt, im Windschatten der Lotto-Zentrale, die ihren Sitz am Rande eines Friedhofs im Südosten von Leipzig hat. Hinter der rotleuchtenden Glücksspiel-Reklame wechseln sich schmutzig graue Gewerbehallen mit Grünflächen ab. In der benachbarten Friedhofsgärtnerei werden "Grablampen, Vasen und Schalen" feilgeboten, wie ein Schild am Zaun verkündet. Am Eingang der Gärtnerei herrscht an diesem Freitag rege Geschäftigkeit, Polizeibeamte gehen ein und aus.

Michelle

Am 18. August um 15.30 Uhr brach die achtjährige Michelle von der Schule auf, danach hat sie keiner mehr gesehen.

(Foto: Foto: dpa)

Später am Nachmittag werden sie mit ihren weißen Gummihandschuhen ein paar wohl verpackte Gegenstände hinausschleppen: Einen Stuhl und eine Zweiradkarre, deren Griff mit blauer Plastikfolie umwickelt ist, dazu ein hellblaues Kinderfahrrad, dessen Sattel ebenfalls von einer Schutzhülle umgeben ist.

Die Fahnder wollen die beschlagnahmten Stücke auf Fingerabdrücke untersuchen: "Es geht um die Frage, ob die Dinge in Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen oder nicht", sagt Polizeisprecher Andreas Loepki abends im Regionalfernsehen. Um welches Verbrechen es geht, muss der Beamte gar nicht mehr sagen. Jeder in Leipzig weiß, dass Michelle gemeint ist, jene achtjährige Schülerin, deren Leiche am 21. August in einem Entenweiher im Leipziger Südosten gefunden wurde, nur ein paar hundert Meter von der Friedhofsgärtnerei entfernt.

Seither gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema mehr in der Stadt. Kerzen und Blumen wurden in der Nähe des Fundortes aufgestellt, Taxifahrer haben sich einen Trauerflor an die Autoantenne gehängt, denn der Vater des getöteten Mädchen arbeitet gelegentlich auch als Taxifahrer. Und die örtliche Boulevardzeitung fragt in großen Lettern: "Warum kriegen sie Michelles Mörder nicht?"

Ja, warum? Eine Sonderkommission mit 177 Beamten ist rund um die Uhr auf Spurensuche, die Beamten haben bereits viele hundert Nachbarhäuser nach Hinweisen abgeklappert, unterdessen werden die Biografien von etwa 250 wegen Sexualdelikten vorbestraften Delinquenten auf mögliche Verdachtsmomente untersucht. Offiziell hat die Polizei eine Nachrichtensperre über den Fall verhängt.

Hinter vorgehaltener Hand aber berichten Kriminaler, die Ermittlungen seien kompliziert - weit schwieriger jedenfalls als die Fahndung nach dem Mörder des kleinen Mitja, der im Februar 2007 in einer Leipziger Gartenlaube traktiert und ermordet worden war. Damals hatte man ein Überwachungsfoto aus der Straßenbahn mit dem Konterfei des Mörders, eine Bäckereiverkäuferin hatte das Kind noch mit seinem Peiniger gesehen; überdies wies der Fundort der Leiche auf den Inhaber der Gartenanlage.

Diesmal hat der Mörder ersichtlich kein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, der Fundort liegt in einer Parkanlage, und es gibt keinerlei Zeugen, die das Mädchen am Tag seines Verschwindens, dem 18. August, später noch gesehen haben.

Der Tod und das Mädchen

Michelle war gegen 15.30 Uhr mit einer Freundin von der Ferienfreizeit in der Schule aufgebrochen, an der Kreuzung Oststraße/Ecke Holsteinstraße trennten sich die Mädchen, angeblich hatte Michelle noch einen gewissen "L." treffen wollen, wie die Schulkameradin hernach berichtete.

Seit diesem Moment gibt es "keine gesicherte Spur mehr von dem Kind", wie Polizeisprecher berichten. Zwar sind mittlerweile mehr als tausend Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, darunter auch eine Beobachtung, der zufolge Michelle noch gegen 16 Uhr auf einem Spielplatz etwas weiter südlich an der Holsteinstraße gesehen wurde. Doch diesen Hinweis betrachten die Fahnder nicht als gesichert: Allenfalls wenn weitere Zeugen das Kind dort gesehen hätten, könne man von einer Spur sprechen.

In Leipzig hat sich unterdessen ein Straftäter, der wegen des Fall Michelle befragt worden war, das Leben genommen. Die Polizei geht aber nicht von einem Zusammenhang mit der Tat aus.

Haarbüschel am Entenweiher

Was die Polizei in unmittelbarer Nähe des Entenweihers fand, scheint dienlicher zu sein für die Ermittlungen. Haarbüschel des Kindes wurden entdeckt sowie ein frisch ausgehobenes Erdloch, das etwa die Größe eines Kindergrabes hat.

Der Weiher liegt in einer Parkanlage, die einst zu dem Gutshof Stötteritz gehörte. Schon bald nach dem Verschwinden des Kindes hatte die Polizei das sogenannte Stötteritzer Wäldchen durchkämmt; dass sie dabei die Kindsleiche im Teich übersehen haben soll, scheint eher unwahrscheinlich. Aus diesem Grund gehen die Fahnder offenbar davon aus, dass der Mörder das Mädchen erst später im Ententeich abgelegt haben könnte. Das wiederum deutet darauf hin, dass er möglicherweise in unmittelbarer Nähe des Fundortes wohnt.

Das Gutshaus beim Weiher war vor Jahrhunderten ein Treffpunkt von Dichtern wie Jean Paul und Christoph Martin Wieland. Heute ist die barocke Fassade sorgfältig restauriert, das Gebäude beherbergt einen Sozialverein, der sich die Wiedereingliederung psychisch Kranker wie auch ehemals Straffälliger zum Ziel gesetzt hat.

In dem Herrenhaus ist ein sozialtherapeutisches Wohnheim untergebracht. Zu dem Projekt gehören verschiedene Werkstätten, etwa eine Stuhlflechterei, eine Druckerei und eine Gärtnerei. Eben dort stellten die Polizisten am Freitag die Radkarre, den Stuhl und das Kinderfahrrad sicher. Richten sich die Ermittlungen also doch schon auf eine konkrete Spur? Die Ermittler schweigen.

Unterdessen wird in Leipzig über härtere Strafen für Sexualtäter diskutiert. Da spricht der Taxifahrer von der Todesstrafe als probatem Abschreckungsmittel, an den Stammtischen fallen ähnliche Sprüche. Rechtsradikale Gruppen schlagen Kapital aus der Stimmung, für diesen Montag haben sie bereits zum zweiten Mal seit dem Leichenfund zu einer Demo aufgerufen.

Ein Onkel des getöteten Kindes gilt als polizeibekannter Rechter in Leipzig. Doch die Eltern von Michelle, die noch zwei Söhne im Alter von fünf und elf Jahren haben, distanzieren sich: "Sie wollen mit dem braunen Sumpf nichts zu tun haben", erklärt ihre Anwältin Ina Alexandra Tust. Die 31-jährige Mutter wie auch der Vater, 37, übernachten zurzeit an einem Ort außerhalb von Leipzig. "Sie fühlen sich wie in einem Albtraum", sagt die Anwältin.

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