Vor einem Jahr stand Dominique Strauss-Kahn als Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) noch an der Spitze der Finanzwelt - und der nächste Schritt nach oben war mit einer Kandidatur als künftiger Präsident Frankreichs schon geplant. Doch dann wurde der IWF-Chef am 14. Mai in New York verhaftet. Der Vorwurf: Vergewaltigung. Das Strafverfahren wurde zwar eingestellt, doch seither werden immer neue Anschuldigungen laut.
Zwei Tage vor der zweiten Runde der Wahlen, zu denen er einst selbst antreten wollte, enthüllen französische Medien nun: Ermittler aus Lille wollen jetzt auch Berichten über eine gemeinschaftliche Vergewaltigung in Washington nachgehen.
Neu ist dieser Verdacht nicht: Wie die Tageszeitung Voix du Nord berichtet, machte schon am 14. November vergangenen Jahres eine Belgierin in Lille ihre Aussage. Dort beschäftigt sich seit März 2011 eine Ermittlungskommission, bestehend aus den drei Richtern Stéphanie Ausbart, Mathieu Vignau und Ida Chafaï mit einem Prostitutions- und Betrugsskandal. Darin sollen neben Strauss-Kahn auch einflussreiche Geschäftsleute und der frühere Polizeichef der Stadt, Jean-Christophe Lagarde verwickelt sein. Zentrum der Affäre war das örtliche Luxushotel Carlton, gegen dessen Besitzer und Management ebenfalls ermittelt wird.
Im Zuge dieser Ermittlungen machte die 25-jährige Belgierin Marie-Anne S., ein Escort-Girl, ihre Aussage. Voix du Nord berichtet jetzt von einer Reise nach Washington im Dezember 2010, auf die sie Strauss-Kahn, den Geschäftsmann David Roquet und Polizeichef Lagarde nach eigenen Angaben gemeinsam mit ihrer Freundin Aurélie D. begleitete.
Zunächst sei die Reise wie geplant verlaufen. Doch am letzten Abend ihres Aufenthalts sei sie in einer Hotelsuite vergewaltigt worden - von Strauss-Kahn und dem Unternehmer David Roquet.
Wie die nordfranzösische Tageszeitung weiter berichtet, habe die Frau ihre Aussage im Dezember der belgischen Polizei gegenüber wiederholt. Ihre Freundin bestätige diese. Allerdings offenbar nicht uneingeschränkt - das geht aus Auszügen aus den Vernehmungsportokollen hervor, die Libération am Freitagnachmittag online veröffentlichte. In dem Bericht werden die Schilderungen des Escort-Girls Marie-Anne zu besagtem Abend ausführlich zitiert, ebenso die Aussagen von Aurélie S.: "Ich habe ihr angesehen, dass es ihr nicht gefallen hat." Aber: "Ich habe sie nicht 'Nein' sagen gehört. Wenn sie geschrien hätte, hätte ich eingegriffen." Allerdings sei es auch möglich, dass sie ihre Kollegin nicht gehört habe, sagte S. dem Bericht zufolge aus.
Laut der Medienberichte hätten die belgischen Beamten den Frauen vorgeschlagen, Anzeige wegen gemeinschaftlicher Vergewaltigung zu erstatten, was diese jedoch nicht taten.
Die Richter in Lille haben den Auftrag, wegen des Verdachts auf Zuhälterei, Unterschlagung von Gesellschaftsvermögen, Betrug und Geldwäsche zu ermitteln - Vergewaltigung steht nicht auf dieser Liste. Wie Voix du Nord und die liberale Zeitung Libération übereinstimmend berichten, hat die Kommission deswegen die Staatsanwaltschaft der Stadt schon am 28. März um eine Ausweitung ihres Auftrags ersucht.
In Voix du Nord bestätigte Staatsanwalt Frédéric Fèvre, dass ein solcher Antrag vorliege und bald über ihn entschieden werden solle. Eine namentlich nicht genannte Quelle sagte Libération, mit einer Entscheidung sei nicht vor nächster Woche zu rechnen, "damit die Präsidentschaftswahl nicht gestört wird."