Süddeutsche Zeitung

Syrien und Türkei:Mehr als 4200 Tote - Warnung vor Nachbeben

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Durch Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum kommen in der Türkei mindestens 2900 Menschen ums Leben, in Syrien mehr als 1300. Verletzt werden Zigtausende - und weitere Erdstöße drohen.

Die Zahl der Todesopfer der verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist auf mehr als 4200 gestiegen. Der Vorsitzende der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad, Yunus Sezer, gab in der Nacht zum Dienstag die Zahl der Toten im eigenen Land mit 2921 an. Außerdem seien 15 834 "unserer Bürger" verletzt. Angehörige und Rettungskräfte suchten auch in der Nacht zum Dienstag weiter nach Verschütteten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprach vom schwersten Beben seit 1939.

In Syrien kamen nach Angaben des Gesundheitsministeriums sowie der Rettungsorganisation Weißhelme vom Montagabend mindestens 1300 Menschen ums Leben. Mehr als 2200 Menschen seien verletzt worden, berichteten der stellvertretende Gesundheitsminister Ahmed Dhamirijeh im syrischen Staatsfernsehen sowie die Hilfsorganisation Sams, die in von Rebellen kontrollierten Gebieten des Landes arbeitet.

In der Nacht zum Montag hatte ein Erdbeben mit Epizentrum bei Kahramanmaraş die Südosttürkei erschüttert. Der türkische Katastrophendienst Afad korrigierte die Stärke des Hauptbebens später von 7,4 auf 7,7. Ein weiteres Beben der Stärke 6,6 sei kurz darauf in der Provinz Gaziantep gemessen worden. Am Mittag erschütterte ein weiteres Beben der Stärke 7,5 die Südosttürkei. Das Epizentrum habe erneut in Kahramanmaraş gelegen, meldete die Erdbebenwarte Kandilli in Istanbul. Ein weiteres Beben der Stärke 5,6 hat nach Angaben der europäischen Erdbebenwarte EMSC am frühen Dienstagmorgen die Zentral-Türkei erschüttert. Das Epizentrum lag in einer Tiefe von zwei Kilometern.

Janine Wissler, Parteichefin der Linken, ist derzeit in der Region unterwegs - auf Einladung der Oppositionspartei HDP. Wissler schildert ihre Eindrücke: "Das Erdbeben heute Nacht war sehr beängstigend. Nicht nur die Stärke des Erdbebens, sondern auch die ungewöhnlich lange Dauer. Ich habe Menschen gesehen, die bei Minusgraden barfuß, nur in Sandalen, aus ihren Häusern geflüchtet sind. In Sorge um ihr eigenes und das Leben ihrer Angehörigen."

Betroffen sind auch große Flüchtlingscamps

Die HDP-Abgeordnete, mit der sie unterwegs sei, habe zusammen mit anderen versucht, Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses zu befreien, so Wissler weiter. "Das Erdbeben hat die Menschen im Schlaf überrascht, ich habe eingestürzte Häuser gesehen, unter deren Trümmern Menschen verschüttet sind. Es wird in der gesamten Region dringend internationale humanitäre Hilfe gebraucht."

Tiefe Temperaturen und starker Schneefall verschärften die Notlage: "Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Betroffen sind wohl auch die großen syrischen Flüchtlingscamps, sowie jene Orte in Nordostsyrien, die noch heute unter den Bombardements der türkischen Regierung und der dadurch zerstörten Infrastruktur leiden", erklärt die Linken-Chefin. Ihr Fazit: "Es muss dringend dafür gesorgt werden, dass die Häuser aller Menschen, die in der Türkei leben, erdbebensicher gebaut werden. Es ist erschreckend zu sehen, dass viele der eingestürzten Häuser erst relativ neu gebaut wurden."

Ein weiterer Augenzeuge, Rami Araban, Mitarbeiter von Care in Gaziantep, ist erschüttert von der Naturkatastrophe: "Es war sehr beängstigend und hat einfach nicht aufgehört. Ich dachte, dass die ganze Stadt zusammenstürzt. Aktuell habe ich nur noch 13 Prozent Akku, es gibt kein Wasser und wir stehen bei Minusgraden im Schnee draußen. Die Menschen weinen. Alle haben Angst. Für Kinder und ältere Menschen ist die Situation besonders schwer. Die Nachbeben sind sehr heftig und alle befürchten, dass das nächste Gebäude einstürzt, deswegen traut sich niemand rein."

Auch in Libanon, das an Syrien grenzt, waren die Erdbeben zu spüren. In der Hauptstadt Beirut verließen Anwohner teils fluchtartig ihre Häuser. Zu registrieren war das Beben auch in Israel. Nach Angaben der israelischen Polizei gab es aber keine Verletzten oder Schäden.

Rettungskräfte bitten um Hilfe der internationalen Gemeinschaft

In Syrien stürzten der staatlichen Nachrichtenagentur Sana zufolge in zahlreichen Städten Gebäude ein. Rettungsteams versuchten in der Nacht und im Morgengrauen, Menschen aus den Trümmern zu ziehen. Der Leiter des Nationalen Erdbebenzentrums, Raed Ahmed, sagte laut der Nachrichtenagentur Sana, es sei das stärkste Beben in Syrien seit 1995. Präsident Baschar al-Assad rief sein Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen.

"Wir reagieren mit allem, was wir können, um diejenigen zu retten, die unter den Trümmern liegen", sagte der Leiter der Rettungsorganisation Weißhelme, Raed Al Saleh. "Die Krankenhäuser sind überlastet mit Schwerverletzten", sagte ein Sprecher der Organisation. Regen und Kälte erschwerten die Einsätze zusätzlich. "Wir brauchen dringend die Hilfe der internationalen Gemeinschaft", sagte Basel Termanini, Vorsitzender der Syrian American Medical Society (Sams), der dpa. Die Lage sei "katastrophal".

In der Türkei war das Beben nach Angaben von Vizepräsident Fuat Oktay in zehn Provinzen zu spüren. Mindestens 1700 Gebäude seien eingestürzt. Aus dem Innenministerium hieß es, Rettungsteams aus dem ganzen Land würden zusammengezogen. Man habe zudem die Alarmstufe vier ausgerufen und damit auch um internationale Hilfe gebeten. Es sei zu insgesamt 22 teils starken Nachbeben gekommen.

Minusgrade in den betroffenen Provinzen, Flughäfen geschlossen

Die Wetterbedingungen erschwerten die Rettungsarbeiten, sagte der türkische Präsident Erdoğan. In den betroffenen Provinzen herrschen derzeit Minusgrade, in einigen Gegenden schneit es. Mehrere Flughäfen blieben dort vorerst für zivile Flüge geschlossen. Dabei gehe es um die Flughäfen in Hatay, Kahramanmaraş und Gaziantep, sagte Vizepräsident Oktay. Der Sender CNN Türk zeigte Bilder von einem tiefen Riss in einer Landebahn am Flughafen Hatay.

Unter den eingestürzten Gebäuden in der Türkei war neben Wohnhäusern auch ein Krankenhaus in der Stadt İskenderun am Mittelmeer. Dort ist im Hafen ein großes Feuer ausgebrochen. Videoaufnahmen zufolge steigt über dem Hafen der Stadt in der Provinz Hatay eine schwarze Rauchwolke auf. Die Brandursache ist unklar. İskenderun liegt im Erdbebengebiet nahe der Grenze zu Syrien.

In der Stadt Gaziantep wurde laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu auch die Burg stark beschädigt. Menschen in der Türkei wurden aufgerufen, wegen der Kommunikationsengpässe online zu telefonieren und nicht über das Handy-Netz, damit vorrangig Verschüttete erreicht werden können.

Präsident Erdoğan schrieb auf Twitter, "wir hoffen, dass wir diese Katastrophe gemeinsam in kürzester Zeit und mit möglichst geringem Schaden überstehen". Das Auswärtige Amt mahnte zur Vorsicht und riet, sich an die Anweisungen der örtlichen Behörden zu halten. Mehrere Staaten sagten der Türkei Hilfe zu.

Das Land ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr. Bei einem der folgenschwersten Beben der vergangenen Jahre kamen im Oktober 2020 in İzmir mehr als 100 Menschen ums Leben. Im Jahr 1999 wurde die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt İzmit kostete mehr als 17 000 Menschen das Leben. Für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben.

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