Erdbeben-Katastrophe:Verzweifelte Suche nach Überlebenden

Einwohner zerstörter Dörfer klagen über die schleppend anlaufende Hilfe - doch viele Straßen sind zerstört. Ausgehungerte Einwohner plündern die ankommenden Hilfstransporter.

Manuela Kessler

Die Stimmen unter den Trümmern sind vor einigen Stunden verstummt. Ein Bulldozer steht am Rande des Ruinenfelds, das einst die Mädchenschule von Garhi Habibullah war, einem mehrere tausend Seelen zählenden Dorf im Kaghan-Tal, das sich nördlich von Muzaffarabad, dem Hauptort des pakistanischen Teils Kaschmirs, hinaufwindet bis zum Babusar-Pass auf 4175 Meter Höhe. Das Raupenfahrzeug, das einem lokalen Bauunternehmer gehört, ist kaputt. Die Bilder eines privaten pakistanischen Fernsehsenders zeigen, dass die Dorfbewohner am Ende ihrer Kräfte sind. Es ist Fastenzeit. Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp in Garhi Habibullah, und die Nacht haben die Einwohner bei kühlen Temperaturen und peitschendem Regen in zusammengezimmerten Unterständen verbracht.

Erdbeben-Katastrophe: Verzweifelte Menschen suchen ihre Angehörigen unter den Trümmern.

Verzweifelte Menschen suchen ihre Angehörigen unter den Trümmern.

(Foto: Foto: DPA)

Das Bergdorf wirkt wie ausgebombt. Viele der mit Lehm und Stein erbauten Häuser sind zerbröckelt, als die Erde am Samstagmorgen rumorte. Risse überziehen die stehen gebliebenen Wände wie Spinnweben. Niemand wagt sich in die beschädigten Häuser. Der Schock sitzt tief. Gewiss, die wenigen massiven Betonbauten im Ort, die Moschee und die Privatschulen, haben die Erdstöße der Stärke 7,6 auf der Richterskala und die mehr als 40 Nachbeben relativ unbeschadet überstanden. Die staatlichen Schulen und das öffentliche Krankenhaus sind jedoch in sich zusammengestürzt.

Die Hoffnung nicht aufgeben

Mehr als zwei Tage sind seit der Katastrophe verstrichen. Der Geruch der Verwesung liegt in der Luft, wie ein pakistanischer Reporter berichtet. Ein paar Väter aber wollen die Hoffnung nicht aufgeben, ihre Töchter doch noch lebend aus dem Schuttberg zu bergen, der von der Mädchenschule übrig ist. Die Trümmer haben 350 Kinder und fünf Lehrerinnen unter sich begraben. Mit bloßen Händen zerren die Männer eine Wellblechplatte weg und machen sich mit Schaufeln und Pickeln daran, ein Loch in die darunter liegende Betonwand zu bohren, irgendwie.

95 Mädchen haben sie aus der Abbruchhalde lebend zu retten vermocht, die meisten mit schweren Quetschungen und Wunden, wie Muhammad Shafiq berichtet. Am Montag jedoch hätten sie nur Leichen aus den Trümmern gezogen. Ein halbes Dutzend von ihnen liegt so, wie sie gefunden wurden, auf Bettgestellen, bereit, abtransportiert zu werden zum Begräbnis. Der weiße Baumwollstoff, in den die Muslime ihre Toten hüllen, ist ausgegangen. Wehklagende Frauen scharen sich um die leblosen Körper.

Korruption der Behörden verantwortlich für Katastrophe

Die Männer lassen ihrer Erbitterung freien Lauf. Einer macht die Korruption der Behörden verantwortlich dafür, dass die öffentlichen Schulen, weil schäbig gebaut, zu Todesfallen wurden im pakistanischen Teil Kaschmirs. Mehr als die Hälfte der Opfer sind Kinder. Ein anderer beklagt, dass keine Hilfskräfte und -mittel bislang nach Garhi Habibullah gelangten. Ein Helikopter ist zwar am Rand des zerstörten Bergdorfes gelandet, damit sich das Militär ein Bild von der Situation machen konnte, wie die Männer zornig sagen. Damit hatte es sich. Wer Verwandte anderswo im Land hat, packt seine Siebensachen und flüchtet aus dem Erdbebengebiet. In Muzaffarabad beginnt am Montag ein Massenexodus, nachdem die Straße nach Islamabad geräumt und für den Verkehr freigegeben worden ist.

Vermutlich 40.000 Tote und Millionen Obdachlose

Ausgehungerte Einwohner plündern die ankommenden Hilfstransporter und brechen in Lebensmittelgeschäfte ein. Mehr als 11.000 Tote sind Premierminister Shaukat Aziz zufolge allein in der Hauptstadt des pakistanischen Teils Kaschmirs zu beklagen, die unweit des Epizentrums liegt, an die 20.000 im ganzen Land - und die Zahl der Erdbebenopfer dürfte weitersteigen, auf mehr als 40.000, wie der Sprecher von Präsident Pervez Musharraf vermutet. Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen obdachlos geworden in dem 400 Kilometer langen Erdbebengürtel, der sich von Jalalabad in Afghanistan bis nach Srinagar im indischen Teil Kaschmirs erstreckt.

Jan Egeland, der die UN-Katastrophenhilfe koordiniert, spricht von einer ungeheuren Herausforderung. Hunderttausende wintersichere Zelte und viele Helikopter, die Hilfsgüter in die abgeschnittenen Bergregionen transportieren sollen, würden dringend benötigt. Die internationale Gemeinschaft hat sich angesichts der Verwüstungen nicht lang bittenlassen: Rettungsteams und Hilfslieferungen aus vielen Ländern treffen in Islamabad ein. Die pakistanische Regierung weist ihnen Gebiete zu. Hinzugelangen ist für manche Einsatzteams eine vorerst unüberwindbare Hürde.

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