Erdbeben in Nepal:Verschluckt von einem Monster

Death toll passes 2,300 as major aftershocks continue to rock Nep

Ein Mönch betrachtet die Schäden im Swayambhunath-Tempelkomplex in Kathmandu

(Foto: dpa)

Die alten Bauten aus rotem Ziegel und Holz haben der gewaltigen Erschütterung in Nepal nicht standgehalten: Das historische Kathmandu, das Jahrhunderte überdauert hat, existiert so nicht mehr.

Von Eckhart Nickel

Die majestätischen Höhen des Himalaja, man hatte es schon fast vergessen, verdanken ihre Entstehung einer geologischen Katastrophe: Indien, das einst Insel war, krachte mit Urwucht in Asien hinein. Diese Kollision, die im Känozoikum stattfand, formte eine zerbrechliche Zone der Existenz, die nie wirklich zur Ruhe kam, dabei aber in ihrer hypernervösen Grundverfasstheit Außerordentliches zustande brachte: die atemberaubende Naturschönheit des Hochgebirges, das wir heute "Dach der Welt" nennen.

Immer wieder bringt es die gewalttätigen Umstände seiner Geburt mit Schrecken furchtbaren Ausmaßes in schmerzhafte Erinnerung. Monsunstürme, Schneelawinen und Erdbeben gehören von Beginn an zur Geschichte Nepals.

Einem Erdbeben verdankt sich auch das Verschwinden des Sees, der einst das Hochtal von Kathmandu bildete. So entstand eine in jeder Hinsicht fruchtbare Kulturlandschaft. Das handwerklich und landwirtschaftlich hochbegabten Newar-Volk machte es zu dem, was es heute ist: ein zivilisatorisches Kleinod mit der größten Tempeldichte der Welt.

Nepal war immer wieder Schauplatz blutiger Tragödien

Dieser Umstand prädestinierte Kathmandu und ganz Nepal, das in Spiegelung seiner geografischen Herkunft auch in Architektur und Menschenschlag irgendwo zwischen Indien und Tibet liegt, zum Sehnsuchtsort westlicher Projektionen. Die reichen vom Jungbrunnen des Shangri-La, den der Schriftsteller James Hilton in seinem Roman "Lost Horizon" 1933 als tibetanisches Kloster in einem versteckten Himalaja-Gebirgspass lokalisierte, bis zum mythischen Hippie-Paradies, zu dem gegen Ende der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts die legendäre "Road to Kathmandu" führte.

Und als ob die gefährliche tektonische Gratwanderung, die unter der Erdoberfläche stattfindet, auch die dort lebenden Menschen in unnachahmlicher Weise sensibilisiert hätte, war Nepal auch immer wieder Schauplatz blutiger Tragödien: Sei es das Kot-Massaker, bei dem General Jung Bahadur Kunwar 1846 am königlichen Hof fast die ganze politische Elite des Landes eliminierte, um die Dynastie der Ranas an die Macht zu bringen.

Oder der zehn Jahre währende brutale Bürgerkrieg, mit dem die Maoisten seit den späten Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts das Hindu-Königtum Nepal hinwegfegen wollten. Mehr als 13 000 Nepalesen fielen ihm zum Opfer.

2001 schließlich das sogenannte Royal Massacre, bei dem fast die gesamte Familie von König Birendra ums Leben kam. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, ob es wirklich der Kronprinz Dipendra war, der seine Familie in einer Art Shakespeare-Tragödie aus Liebeskummer niedermetzelte. Oder ob, wie stets in Nepal, entweder Indien oder China ihre Finger mit im Spiel hatten. Denn Nepal ist mit seinen Wasservorräten und anderen Bodenschätzen für beide Großmächte jenseits der Grenzen im Norden und im Süden politisch und wirtschaftlich hochinteressant.

Sieben Jahre später verabschiedete das Parlament offiziell den letzten König Gyanendra. Nepal wurde Republik, die auch ohne König so schwer zu regieren erscheint wie ehedem. Nach den Maoisten Prachanda und Bhatterai, nur unterbrochen von zwei Kommunisten und einem parteilosen Interimsbeauftragten, ist nun mit Sushil Koirala wieder ein Mitglied der Nepalesischen Kongresspartei Premier.

Schlimmer als jemals angenommen

Erdbeben in Nepal: Der Dharahara-Turm in Kathmandu, vom Erdbeben zerstört.

Der Dharahara-Turm in Kathmandu, vom Erdbeben zerstört.

(Foto: Niranjan Shrestha/AP)

Das Erdbeben trifft Nepal nach den vielen politischen Wirren der vergangenen Jahre völlig unvorbereitet. Auch wenn es mehr als überfällig war, wie Geo Hazards International, eine gemeinnützige Organisation in Kalifornien zur Hilfe strukturschwacher Länder wie Nepal warnte. Nun ist es also passiert, und es ist entsetzlich, schrecklich, schlimmer als jemals angenommen. Als kurz vor der Mittagsstunde am Samstag die Erde zu beben begann, befanden sich zum Glück kaum Kinder in den Schulen.

Die ein, zwei Minuten des Bebens kosteten unzählige Menschen das Leben. Augenzeugen berichten von Rissen, die sich in Straßen auftaten wie gigantische Schlünde von Monstern. Häuser brachen entzwei, und die Erde schwankte wie ein Schiff in schwerer See. Ausgerechnet die aquatische Herkunft des Kathmandu-Tals, seine geologische Beschaffenheit mit weichem Boden, übertrug wegen der geringen Tiefe des Bebens in nur 15 Kilometern unter der Erde die schweren Schwingungen besonders stark. Derselbe Boden, aus dem seit Jahrhunderten die rot leuchtenden Ziegel gefertigt werden, wurde den Tempeln zum Verhängnis. Neben Holz sind sie die wichtigste Bausubstanz der unter Denkmalschutz stehenden Monumente.

Von mehrstöckigen Tempeln sind nur noch Bretterlawinen geblieben

Basantapur und Patan, dessen Entstehung bis ins dritte Jahrhundert zurückreicht, die Zentren des alten Kathmandu, sind am schlimmsten betroffen. Die ohne Mörtel geschichteten Ziegel ließen die mehrstöckigen Tempel in ihrer fragilen Schönheit buchstäblich in sich zusammenfallen und hinterließen Bretterlawinen, die sich in die Straßen ergossen.

Vier der sieben Unesco-Weltkulturdenkmäler der Region sind betroffen: Der alte weiß getünchte Königspalast am Durbar Square in Basantapur hat das Beben mit großen Rissen und überall abgebrochenen Ecken noch am besten überstanden. Maju Deval, ein Tempel aus dem Jahr 1690, auf dessen Stufen sich die Bewohner Kathmandus allabendlich zusammenfanden, ist dem Erdboden gleichgemacht - wie fast alle anderen neben ihm.

Der weiße Dharahara-Turm stürzte um, ein schlankes neunstöckiges Monument, das 1832 von Bimsen Thapa für die junge Königin Lalit Tripura Sundari errichtet wurde. Erst vor Kurzem war es mit Aussichtsplattform für Besucher wieder eröffnet worden. Der ebenfalls neunstöckige Basantapur-Turm auf dem Durbar Square, der einst als Palast der Vergnügungen gebaut worden war, steht nicht mehr. Es heißt, König Thribuvan habe aus dem Fenster von oben stets darüber gewacht, dass Rauch aus allen Schornsteinen quoll - ein Zeichen, dass alle Nepalesen genügend Essen zum Kochen hatten.

Die berühmte Stupa in der tibetanischen Enklave Bodnath wenige Kilometer nordöstlich von Kathmandu, das heiligste buddhistische Monument außerhalb Tibets, 36 Meter hoch und im 14. Jahrhundert erbaut, hat ihre blauen Augen geschlossen, die bisher auf der Stupa zu finden waren. Vor Kurzem noch ruhten sie unter der goldenen Spitze im Zentrum der bunt flatternden Gebetsfahnen wachsam auf der Umgebung. Die Stupa steht nun kopflos da.

Schon als sich die ersten Nachrichten vom Erdbeben über das Internet verbreiteten, wurde schnell und schmerzhaft deutlich, was seither Gewissheit ist: Das historische Kathmandu, dieses im Kern immer noch aus der Zeit gefallene Relikt, das einen über Jahrhunderte hinweg transportieren konnte, existiert so nicht mehr.

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