Erdbeben in Kalifornien:Mächtiges Grollen der Natur

Mehr als 170 Verletzte, erhebliche Schäden: Es war der schwerste Erdstoß in der Region seit 25 Jahren. Dennoch ist die Gegend um San Francisco noch einmal glimpflich davongekommen. Die Naturkatastrophe weckt allerdings die Befürchtung, dass das "Big One" noch folgen könnte.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Um 3:20 Uhr von einem Erdbeben der Stärke 6.0 geweckt zu werden, ist eine ziemlich beschissene Erfahrung. Als würde die Natur lächelnd an deinem Landstrich rütteln, um mal klarzustellen, dass du und deine Zivilisation am Ende doch nur ein Wimpernschlag im Lauf der Dinge seid. Und doch darf sich die Bay Area rund um San Francisco einigermaßen glücklich schätzen: Das Erdbeben am Sonntagmorgen ist erstaunlich glimpflich abgelaufen.

Erstaunlich zumindest in diesem Sinne, dass die Gegend schon lange auf das "Big One" wartet; jenes schwere Beben im Andreasgraben, das seit Jahren überfällig ist und in San Francisco längst zur identitätsstiftenden Prophezeiung gehört. Die in bester kalifornischer Übertreibung beschriebene Vision, irgendwann einmal im Meer zu versinken, gibt dem Stadtleben ja durchaus etwas Verwegenes.

Der Überraschungseffekt ist dennoch geglückt. Das Epizentrum lag ausgerechnet in der bislang völlig ruhigen West-Napa-Falte, die in einer Erdbeben-Risikobewertung aus dem Jahr 2008 nicht einmal vorkam, im Gegensatz zu fast jeder anderen Mini-Runzel im weiteren Umkreis.

Stromausfall, Gaslecks und eine abgebrannte Container-Siedlung

Mehr als 170 Verletzte (fast alle davon leicht) lautet die aktuelle Bilanz. Drei von ihnen schwebten dem San Francisco Chronicle zufolge am Sonntagnachmittag aber noch in Lebensgefahr. Dazu zählt ein Kind, das von den Trümmern eines zusammengestürzten Kamins getroffen wurde. Hinzu kommen ungefähr 100 teils schwer beschädigte Gebäude, Stromausfall, Gaslecks und eine abgebrannte Container-Siedlung.

Der Gouverneur von Kalifornien, Jerry Brown, rief den Notstand für die Region aus. Die Schäden konzentrieren sich im und um den Weinort Napa. Die Zerstörungen in den prachtvollen Weinkellern der Gegend wurden in den geldigeren Teilen der Region mit ehrlicher Bestürzung zur Kenntnis genommen.

Stundenlang zeigten am Sonntag die Lokalsender Bilder zusammengeschobener Straßen und angeschlagener Gebäude. In Endlos-Schleife schilderten mehr als ein halbes Dutzend TV-Reporter aufgeregt ihre Eindrücke, alle aus dem selben kleinen Korridor im Zentrum Napas; vergeblich warteten die Zuschauer darauf, dass sich zwei Berichterstatter einmal während ihres aufgeregten Ganges durch die verkohlten Wohncontainer-Reste über den Haufen laufen würden.

"Ich habe leider keine Schäden zu berichten", erklärte ein hörbar enttäuschter Reporter auf einem Weingut nahe des Epizentrums, um sich schnell zu korrigieren. "'Leider' ist vielleicht nicht das richtige Wort."

Aber natürlich ist das alles auch ziemlich beunruhigend, außer vielleicht für Verkäufer von Erdbeben-Versicherungen, die am Montag mit neuem Elan zur Arbeit gehen dürften. Keine App, keine Big-Data-Simulation wird das nächste Erdbeben vorhersehbar machen. Und so mag sich mancher Neuling damit schmücken, die größte Erschütterung seit 1989 hautnah erlebt zu haben; Alteingesessene erinnern sich jedoch noch mit Schrecken, wie San Francisco, Oakland und Teile des Silicon Valleys damals an manchen Stellen auseinander zu fallen schienen und 62 Menschen starben.

Am Ende ist das hier eben Kalifornien

Auch wenn die Infrastruktur heute stabiler ist: Der Schock über die Verletzlichkeit der Gegend hat nie zu wirken aufgehört, das mächtige Grollen der Natur hat ihn wieder aus dem kollektiven Unterbewusstsein gelockt.

Doch am Ende ist das hier eben Kalifornien. Als am Sonntagmorgen die Feuer gelöscht waren und die Reparaturarbeiten begannen, machten auch Bilder aus einer Wohnsiedlung in Napa die Runde. Eine kleine Gruppe Jugendlicher hatte ihre Skateboards rausgeholt und sprang mit ihnen über den sich in die Höhe kräuselnden Teer der kaputten Straße.

Wo alles möglich und die Freiheit fast grenzenlos erscheint, schrumpft am Ende noch jede Katastrophe zu einem überwindbaren Hindernis.

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