Erdbeben in Haiti:Wut, Verzweiflung, Chaos

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Nach dem furchtbaren Erdbeben in Haiti kämpfen Millionen Menschen ums Überleben und warten auf Wasser, Lebensmittel und Medikamente. Immer deutlicher wird das apokalyptische Ausmaß der Katastrophe: Neben der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince sind auch im Süden und Westen des bitterarmen Karibikstaats Städte verwüstet.

Fast alles kaputt, fast alles zerstört in Port-au-Prince und Umgebung. Der Präsidentenpalast, das Hauptquartier der Vereinten Nationen mit ihren 9000 Soldaten, Polizisten und Zivilisten, Ministerien sind kaputt, die Kathedrale, die haitianische Polizeizentrale, Krankenhäuser, Schulen, das größte Gefängnis. Es fehlt an allem: Logistik, Medizin, Wasser, Lebensmittel. Auf den Straßen der Hauptstadt sind unzählige Menschen unterwegs. Oft tragen sie einen Mundschutz, der gegen den Leichengeruch helfen soll. Viele sind traumatisiert.

Apokaliptische Szenen in Port-au-Prince: Nur die wenigsten Toten bekommen noch einen Sarg (Foto: Foto: dpa)

Die haitianische Regierung befürchtet bis zu 200.000 Tote. 250.000 Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt, 1,5 Millionen sind obdachlos. Nur insgesamt 70 Überlebende konnten laut UN seit dem Beben am Dienstag aus den Trümmern geborgen werden. Am Sonntag zog ein israelisches Rettungsteam in Port-au-Prince einen Verschütteten nach 125 Stunden unter Trümmern hervor. Auch die deutsche Besitzerin des zerstörten Hotels Montana, Nadine Cardoso, wurde am Samstag lebend aus den Trümmern des Gebäudes geborgen. Noch immer werden auch knapp 30 Deutsche vermisst.

Die Vereinten Nationen sprechen inzwischen von der schlimmsten Katastrophe in ihrer Geschichte. Auch außerhalb der Hauptstadt: "Jacmel ist kaputt, viele Häuser liegen in Trümmern", sagte Haitis Botschafter Jean Robert Saget in Berlin. Helfer berichteten von einem logistischen Alptraum, die Hilfsgüter erreichen die Menschen nur schleppend.

Apokalyptische Szenen

Der Länderdirektor des Kinderhilfswerks Plan International, Rezene Tesfamariam, beschrieb die Situation in Jacmel im Süden des Landes: "60 Prozent der Gebäude in Jacmel sind zerstört, 24 Schulen sind eingestürzt oder stark beschädigt, die Krankenhäuser haben keinen Strom", sagte er laut einer Mitteilung vom Sonntag. In Leogane, westlich von Port-au-Prince, sprach ein Reporter der britischen BBC von apokalyptischen Szenen. Fast jedes Gebäude sei zerstört, nach UN-Angaben sind 90 Prozent der Häuser dem Erdboden gleichgemacht. "Hier ist das Epizentrum und viele Tausende sind tot", erklärte UN-Vertreter David Orr, laut BBC. Ein Überlebender sagte: "Wir haben keine Hilfe, nichts. Kein Essen, kein Wasser, keine Medizin, keine Ärzte."

Für die Helfer ist die Lage schwierig. Selbst beim Tsunami Ende 2004 in Asien mit mehr als 230.000 Toten habe es keine solchen logistischen Probleme gegeben, sagte Elisabeth Byrs, Sprecherin des UN-Koordinationsbüros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA), in Genf. Als Nadelöhr erwies sich der Flughafen, der mittlerweile von den USA kontrolliert wird, um Hilfslieferungen effizienter abzuwickeln. Die Maschinen müssen wegen des verstopften Airports oftmals über Stunden Warteschleifen fliegen. "Wir hoffen, dass wir bald eine Kapazität von 90 Maschinen pro Tag haben", erläuterte PJ Crowley, Sprecher des US-Außenministeriums. Der US-Flugzeugträger "USS Carl Vinson" liegt mit Elite-Einheiten an Bord vor der Küste des Karibikstaats vor Anker, weitere US- Kriegsschiffe plus ein riesiges Lazarettschiff sind auf dem Weg.

"Es gibt nichts, worauf wir bauen können", sagt Michael Kühn, Repräsentant der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti. Das UN-Kinderhilfswerk und weitere Organisationen begannen mit der Verteilung von Trinkwasser. Einsatzkräfte aus Israel bauten innerhalb weniger Stunden ein Krankenhaus auf, in dem sie täglich maximal 500 Patienten behandeln können. Die Vereinten Nationen errichteten 15 Zentren inner- und außerhalb von Port-au-Prince zur Verteilung von Hilfsgütern.

In einem Wettlauf gegen die Zeit operierten Mediziner der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" Verletzte. Erfahrene Mitarbeiter sagten nach Angaben der Organisation, sie hätten noch nie so viele schwere Verletzungen auf einmal gesehen. "Innerhalb der nächsten 24 Stunden müssen etwa ein Drittel der Patienten hier unbedingt operiert werden, sonst sterben sie", sagte Jennifer Furin dem Nachrichtensender CNN. Die Medizinerin arbeitet in einem provisorischen Krankenhaus am Flughafen von Port-au-Prince.

"SOS, wir brauchen Hilfe"

Am Sonntag eröffnete die Polizei in Port-au-Prince das Feuer auf eine Gruppe von Plünderern und tötete mindestens einen von ihnen. Hunderte Menschen hatten zuvor einen Supermarkt in der haitianischen Hauptstadt gestürmt. Die Zusammenstöße mit der Polizei dauerten an, während bewaffnete Verstärkung für die Sicherheitskräfte anrückte.

In den vergangenen Tagen war es immer wieder zu Plünderungen in dem Erdbebengebiet gekommen, auch weil die Hilfslieferungen für die Hunderttausenden Opfer nur langsam anliefen. Und deshalb hoffen sie auf die USA und die amerikanischen Soldaten, die ihnen die US-Außenministerin Hillary Clinton versprochen hat und die Sicherheit bringen sollen.

Vor Anarchie nämlich haben viele Menschen genau so viel Angst wie vor Nachbeben und den Nächten, die noch dunkler sind als vorher, weil mangels Sprit irgendwann auch die Generatoren nicht mehr arbeiten. Die Blauhelme allein können kaum für Ordnung sorgen. Haitis Polizisten schon gar nicht. Sie haben nur eine kurze Ausbildung hinter sich - und nun nicht einmal mehr Kasernen. Ein paar Proteste und Plünderungen wurden gemeldet, ansonsten ist es relativ ruhig, nachts sind hauptsächlich Flugzeuge zu hören, Hunde und Hähne.

Radio "Planet Creole" sendet religiöse Musik, das soll beruhigen und an den Himmel erinnern. "Willst du ewig leben, willst du ins Paradies? Jesus ist gut." Solche Sätze singen Gospelsänger. Dieu e bon, Gott ist gut, so steht es auch auf den bunt bemalten Sammeltaxis. Adventskirchen und Missionare fallen nun in Scharen ein. Bis jetzt sind die Leute tapfer bis apathisch, nicht aggressiv, und doch auch verärgert und verzweifelt, weil die versprochenen Lebensmittel und der übrige Beistand so langsam eintreffen.

"SOS, wir brauchen Hilfe", steht auf einem Schild. Dass nach den UN-Friedenstruppen wieder eine fremde Armee anrückt, das wäre vielen Menschen angesichts der Engpässe und Gefahr von Überfällen recht. Trotz des Stolzes auf die haitianische Unabhängigkeit von 1804, dem Sieg über die Sklavenhändler und Franzosen. Die Stimmung allerdings kann schnell kippen, wenn die Transportflugzeuge und Hubschrauber weiterhin nur zu hören sind, und LKW mit Schnellküchen in Konvois zwar anrücken, aber Fertiggerichte, Wasserflaschen und mobile Operationssäle nicht auch bei denen ankommen, die sie dringend brauchen.

Bundespräsident Horst Köhler sprach sich für umfassende Hilfe für das vom Erdbeben zerstörte Haiti aus. "Wir haben hier eine moralische Verantwortung", sagte der Bundespräsident laut einem vorab verteilten Redetext in der ARD-Sendung "Anne Will Extra - Hilfe für Haiti". "Dieser Staat hat nicht funktioniert", so Köhler. "Die Weltgemeinschaft hat das gewusst, hat das aber im Prinzip nicht so ernst genommen, weil es ein kleines Land war."

Der UN-Sicherheitsrat kommt an diesem Montag in New York zu Beratungen über die Lage in Haiti zusammen. Der UN-Sondergesandte für Haiti, Bill Clinton, wird am Montag in das Erdbebengebiet auf der Karibikinsel reisen. Bei seinem Besuch wolle er Präsident Rene Preval treffen, um über die weitere Koordinierung der Hilfsmaßnahmen zu beraten, teilte Clinton am Sonntag mit. Es sei wichtig, dass die ausländische Hilfe effektiv eingesetzt werde. In seiner Maschine werde er außerdem dringend benötigte Hilfsgüter nach Haiti bringen, betonte der ehemalige US-Präsident. Die EU-Entwicklungshilfeminister beraten in Brüssel in einer Sondersitzung über Erdbebenhilfe für Haiti.

Eine vollständige Reportage von Peter Burghardt aus Port-au-Prince lesen Sie am Montag in der Süddeutschen Zeitung.

© SZ vom 18.1.2010/AP/dpa/AFP/Reuters - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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