Erdbeben in Chile und Haiti:Doppeltes Desaster

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"Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe": Die unglaubliche Geschichte der Familie Desarmes, die von Haiti nach Chile floh - und beide Erdbeben überlebte.

Peter Burghardt

Joseph Desarmes lag unter den Trümmern seines Hauses, nachdem am 12. Januar um 16.53 Uhr in Port-au-Prince 40 Sekunden lang die Erde gebebt hatte. Helfer gruben ihn aus. "Ich kann von Glück reden, da lebend heraus gekommen zu sein," sagt er. Ein Glück war es auch, dass sein Sohn Pierre in der chilenischen Hauptstadt Santiago wohnt; seine Band Reggaeton Boys hat gewissen Erfolg in dem fernen Land.

Der Musiker holte seine Familie aus dem halb zerstörten Haiti ins vergleichsweise reiche und noch intakte Chile. Papa, Mama, Schwestern und Nichte zogen zu ihm ins Viertel San Bernardo. Dann begann ein neues Inferno, und die Stöße waren sogar noch viel schlimmer. Am 27. Februar um 3.35 Uhr wackelte auch diese Wohnung, und die emigrierten Haitianer dachten an den Tod. "Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe", sagt Joseph Desarmes. "Es war das Schlimmste, was mir passieren konnte."

Geologisch betrachtet sind die Flüchtlinge von den Bruchstellen der karibischen Platten an die Bruchstellen der südamerikanischen Platten gewechselt, in eine noch unruhigere Region. Chiles schwerstes Beben seit 50 Jahren fiel hundertmal heftiger aus als das von Haiti, Stärke 8,8 statt 7,0. Doch die Desarmes blieben unverletzt, sie wurden nicht verschüttet. Auch dieses Gebäude hielt. Unter anderem deshalb kamen in dem langen, schmalen Land zwischen Anden und Pazifik zwar mehr als 700 Menschen um, aber nicht annähernd so viele wie in Haiti, wo mindestens 220.000 Tote gezählt wurden.

Die Schäden sind auch in Concepción, Talcahuano oder Teilen Santiagos gewaltig, doch kaum zu vergleichen mit der Tragödie von Port-au-Prince, wo die Gewalt der Natur einen Staat und seine Hauptstadt zerstörte.

Gegenpole lateinamerikanischer Entwicklung

Das Epizentrum lag diesmal im Ozean, 115 Kilometer entfernt von Concepción und 34 Kilometer tief im Meer und nicht unmittelbar neben einer fragilen und überbevölkerten Millionensiedlung. Außerdem ist Chile für solches Unheil deutlich besser gerüstet als das bettelarme und unerfahrene Haiti. Die beiden Nationen sind trotz aller chilenischen Probleme zwei Gegenpole der lateinamerikanischen Entwicklung. "Chile ist ein seismisches Land, also müssen wir vorbereitet sein", erläutert ein Sprecher der Notfallbehörde Onemi.

Alle paar Jahre entladen sich die tektonischen Spannungen. Die größte Katastrophe ereignete sich 1960 in Valdivia, es war mit Stärke 9,5 die potenteste Erdbewegung, die jemals gemessen wurde. Seit 1973 wurden in Chile 13 Erschütterungen von 7,0 oder mehr registriert. Haiti dagegen wurde vom ersten großen Desaster seit mehr als 200 Jahren schutzlos erwischt.

Die meisten Chilenen wie auch Mexikaner oder Peruaner wissen, wie sie zu reagieren haben, wenn unter ihnen der Boden wankt. Sie mussten es lernen, und in Hotels und öffentlichen Einrichtungen sind Fluchtwege skizziert und Positionen für den Schutz. Dabei traf dieser Wutanfall des Planeten diese Nation mitten in der Nacht und nicht wie Haiti am späten Nachmittag.

Chile braucht keine Marines

Überraschend schlecht präpariert indes war die Küstenregion für die folgende Flutwellen, die Wogen überraschten Inseln und Hafenstädte. Außerdem zeigt sich auch im klassenbewussten Chile, dass ein Teil der Bevölkerung wesentlich besser geschützt ist als der andere, die Provinz ist teilweise erschreckend rückständig. Und geplündert wurde im besonders demolierten Concepción zuletzt mehr als in Port-au-Prince, ein Einkaufszentrum wurde in Brand gesetzt. Wobei Chiles Präsidentin Michelle Bachelet im Moneda-Palast - anders als Haitis obdachloser Staatschef René Préval - die eigene Armee rufen kann und keine Marines und Blauhelme braucht.

So gesehen war es vermutlich trotz allem ein lohnender Ortswechsel für die engere Verwandtschaft von Pierre Desarmes, dem ausgewanderten Sänger der Reggaeton Boys. Auch könnte seine Familie daran erinnern, dass da auch noch diese Katastrophe in Haiti war, ehe die Welt angesichts der Fortsetzung in Chile und der Stürme in Europa die Tragödie schon wieder vergisst. Pierres Bruder Stanley indes sagt: "Wir haben Haitis Desaster zurück gelassen und sind hier hergekommen, weil wir dachten, dass wir sicher sind, aber wir fanden etwas Schlimmeres, und ich dachte, dies ist das Jahr meines Todes." Es sind die beiden Monate seines Überlebens.

Im Video: Die Zahl der Toten nach dem verheerenden Erdbeben in Chile ist auf 795 gestiegen.

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© SZ vom 03.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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