Erdbeben in Chile:"Ich zucke jedes Mal wieder"

Lesezeit: 4 min

Die Münchnerin Stefanie Wolter schildert, wie sie in Chiles Hauptstadt Santiago die fatalen Erdstöße erlebt hat - und wie Nachbeben nach wie vor Schrecken verbreiten.

Doris Mosandl

In der Nacht zum Samstag ist Chile von einem der schwersten Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen erschüttert worden. Am schlimmsten hat es den Süden des Landes getroffen, aber auch in der Hauptstadt Santiago war das Beben mit einer Stärke von 7 deutlich zu spüren.

sueddeutsche.de sprach mit Stefanie Wolter, einer Münchnerin, die seit einem Jahr in der Millionenmetropole Santiago wohnt und von dem Beben aus dem Schlaf gerissen wurde. Die 28-Jährige ist Diplom-Soziologin.

sueddeutsche.de: Frau Wolter, wie haben Sie die heftigen Erdstöße in der Nacht zum Samstag erlebt?

Stefanie Wolter: Ich habe geschlafen, als es passiert ist. Gegen 3:40 Uhr bin ich aufgewacht, weil es gewackelt hat. Ich habe mir zuerst weiter nichts gedacht, weil es hier in Chile ja öfter mal wackelt. Meistens hört es auch gleich wieder auf. Dann wurde das Beben aber stärker. Das ganze Haus hat geschwankt. Es war ein unglaublicher Lärm. Ein ganz seltsames Geräusch, eine Mischung aus Eisengeklapper und Geröll, das den Berg hinunterrollt. Es hat mindestens eine Minute heftig gebebt. In dem Moment habe ich gedacht, die Welt geht unter. Es gab keinen Strom, also habe ich erst einmal Streichhölzer gesucht und mir Licht gemacht. Ich bin aus meiner Wohnung in den Flur gegangen und habe geschaut, was die Nachbarn machen. Eine Frau hat mir geraten, dass ich schnell nach draußen gehen soll, für den Fall, dass das Haus einstürzt.

sueddeutsche.de: Was ist Ihnen in diesen Momenten durch den Kopf gegangen?

Wolter: Es war surreal. Ich habe gar nicht richtig realisiert, was gerade passiert. Ich habe mich schnell angezogen, ganz funktional meine Sachen zusammengesucht, meinen Reisepass und meine Kreditkarte eingepackt und bin raus aus dem Haus. Ich habe mit dem schlimmsten gerechnet. Ich wusste nicht, was mich erwartet.

sueddeutsche.de: Wie war dann die Situation vor dem Gebäude?

Wolter: Vor dem Wohnkomplex standen schon ganz viele Nachbarn. Viele von ihnen waren im Pyjama aus dem Haus gelaufen. Manchen hatten sich nur in eine Decke gehüllt. Viele hatten Tränen in den Augen. Die meisten haben versucht, ihre Verwandten und Freunde zu erreichen und Informationen zu bekommen. Aber das Handynetz war zusammemgebrochen. Jemand hatte ein Radio dabei, dann gab es die ersten Infos. Dann war schnell klar, dass das Beben wirklich schlimm war. Um kurz vor fünf Uhr gab es wieder Handynetz. Ich habe meine Freunde angerufen, um zu hören, ob sie alles gut überstanden haben. Gott sei Dank ging es alles gut.

sueddeutsche.de: Wie haben die Menschen auf der Straße reagiert?

Wolter: Es war eigentlich sehr ruhig, niemand war panisch. Die Menschen waren sehr hilfsbereit. Eine Frau hat mir gleich Bachblüten-Notfalltropfen angeboten. Alle hatten natürlich Angst. Man muss sich vorstellen: Die Erde bebt, es ist stockdunkel, man weiß nicht, was noch Schlimmes passieren wird. Da ist man zuallererst einmal froh, nicht mehr allein zu sein und zu sehen, dass das Haus noch steht.

sueddeutsche.de: Irgendwann sind Sie dann wieder zurück ins Haus gegangen?

Wolter: Ja, gegen fünf Uhr hat sich die Situation wieder beruhigt. Ich bin dann wieder zurück in meine Wohnung gegangen. Etliche Nachbarn sind aber auch draußen geblieben, weil sie Angst hatten, dass das Haus doch noch einstürzen könnte.

sueddeutsche.de: Wann haben Sie realisiert, welch schlimme Ausmaße die Katastrophe angenommen hat?

Wolter: Das hat ein bisschen gedauert. Im Radio hatten sie kurz nach dem Beben, also noch ganz früh am Morgen, von sieben Toten gesprochen. Samstagmittag gab es in Santiago endlich wieder Strom, so dass ich Nachrichten schauen konnte. Dort hieß es dann, dass es schon mehr als 140 Todesopfer gegeben hat. Im Laufe des Tages ist die Zahl der Toten immer weiter gestiegen. Und jetzt sollen es ja schon mehr als 700 sein. Für Chile ist das ein Riesentrauma.

sueddeutsche.de: Wie war die Lage am Tag nach dem Beben?

Wolter: Im Fernsehen wurde den ganzen Tag über das Erdbeben berichtet und Bilder aus der Region um Concepción gezeigt, das es schlimm erwischt hat. In Santiago hatten alle Restaurants, Cafés und Supermärkte geschlossen. Nur ein paar kleine Läden hatten geöffnet, so dass sich die Leute etwas zu Essen besorgen konnten. Es waren nur ganz wenige Autos unterwegs. Auf den Straßen in Santiago liegen viele Ziegel herum, die von den Dächern gefallen sind. Viele Fenster sind zerbrochen, am Universitätsgebäude ist ein Teil des Daches eingestürzt. Ingesamt ist in Santiago nicht so viel von der Verwüstung zu sehen. Die meisten Gebäude sind hier aber auch sehr erdbebensicher gebaut. Es war außerdem sehr schwül und bewölkt, was äußerst untypisch für Chile ist. Hier ist es fast nie schwül und jetzt im Sommer ist meist keine Wolke am Himmel zu sehen.

sueddeutsche.de: Wie ist die Stimmung unter den Menschen?

Wolter: Es ist ein seltsame Mischung aus Erleichterung und Erschütterung. Die Menschen hier in Santiago sind natürlich froh, dass sie einigermaßen glimpflich davongekommen sind. Gleichzeitig sind sie bestürzt über die vielen Opfer und das Ausmaß der Zerstörung in einigen Regionen. Für Chile ist das eine große Katastrophe.

sueddeutsche.de: Bebt noch immer die Erde?

Wolter: Es hat den ganzen Tag über immer mal wieder gewackelt. In der Nacht zum Sonntag hat es noch einmal ein relativ heftiges Beben gegeben. Das war nicht so stark wie in der Nacht davor, aber so stark, dass ich schon wieder aufgestanden bin und mich angezogen habe, für den Fall, dass es noch schlimmer wird. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn es wieder anfängt zu wackeln. Man rechnet mit dem Schlimmsten.

Im Video: Retter suchen weiter nach Verschütteten. Bislang sind über 700 Tote registriert.

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