Erbkrankheiten:Ungleiches Recht für alle

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Spätabtreibung ja, Präimplantationsdiagnostik nein: In Deutschland dürfen Embryonen mit Erbkrankheiten im Mutterleib getötet werden - nicht aber in der Kulturschale.

(SZ vom 30.10.2003) - Mit dem Vorstoß von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, den vollen Schutz des Grundgesetzes für künstlich gezeugte Embryonen aufzuweichen, gerät auch das in Deutschland geltende Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) ins Wanken.

Die PID erlaubt es nicht nur, bei wenige Tage alten Embryonen bestimmte Erbkrankheiten zu erkennen. Mit dem Verfahren können Fortpflanzungsmediziner künftig noch in der Kulturschale prinzipiell sämtliche Erbmerkmale des heranwachsenden Lebewesen bestimmen.

Weltweit wurde die PID bislang bei über 400 Paaren eingesetzt. In den weitaus meisten Fällen wurden die Embryos am Ende der Untersuchung vernichtet, wie die Gegner der PID betonen.

Befürworter der Methode verweisen dagegen auf mittlerweile über 100 Kinder, die nach einer Präimplantationsdiagnostik auf die Welt kamen. Ohne die erhöhte Sicherheit, ihren Nachkommen schwere Erbleiden zu ersparen, hätten die Mütter diese Kinder vermutlich nicht ausgetragen, lautet das Argument.

Die Kritiker sehen in der PID dagegen das Einfallstor zur Menschenzucht - ein Auswahlverfahren für "perfekte" Nachkommen. 80 Prozent aller Amerikaner würden Embryonen vernichten, wenn diese eine genetische Veranlagung zur Fettleibigkeit hätten, ergab kürzlich eine Umfrage.

Im Gegensatz zu den herkömmlichen Verfahren der vorgeburtlichen Diagnose, bei denen Blut- oder Gewebeproben des Embryos im Mutterleib genommen werden, findet die Präimplantationsdiagnostik immer nur im Rahmen einer künstlichen Befruchtung statt. Zwischen ein und fünf Uhr Nachmittags bringen Reproduktionsmediziner dabei im Labor in einer Kulturschale Eizellen und Spermien zusammen und setzen damit die Befruchtungskaskade in Gang.

Der rechtlich geschützte Embryo entsteht aber erst 16 bis 20 Stunden später mit der Verschmelzung des elterlichen Erbgutes. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Eltern in spe sich in Deutschland für maximal drei Eizellen entschieden haben, die der Frau eingepflanzt werden dürfen.

Mit Ausnahme der Schweiz erfolgt die Auswahl der Kandidaten im Ausland zwei bis sechs Tage später als in der Bundesrepublik. In diesem Zeitraum kann die Untersuchung des Embryos unter dem Mikroskop erste Anhaltspunkte über dessen Fitness geben.

Die Fortschritte der Molekularbiologie erlauben es jedoch zusätzlich, bereits in diesem Stadium die Veranlagung für eine ständig wachsende Zahl von Erbleiden zu erkennen. Dazu gehören Krankheiten wie die Chorea Huntington, die Betroffene im besten Lebensalter lähmt und um den Verstand bringt; ebenso das Lesch-Nyhan-Syndrom, das schon im Kindesalter zu Selbstverstümmelung und schwerer geistiger Behinderung führen kann.

Finden sich etwa in England bei der Analyse des Embryos Hinweise auf diese Leiden, so wird der Embryo nicht implantiert, sondern "verworfen". In Deutschland ist dies verboten. Die gleichen Krankheiten gelten jedoch als Rechtfertigung für eine Abtreibung bis hinein in den sechsten Monat der Schwangerschaft - eine für viele Menschen schwer verständliche Praxis.

Bei diesen Spätabtreibungen wird das Ungeborene im Mutterleib mit einer Spritze getötet. Dahinter steht auch die Furcht vieler Ärzte vor möglichen Regressforderungen nach der Geburt eines stark behinderten Kindes. Die Bundesärztekammer hat das Dilemma erkannt und bereits vor knapp einem Jahr in einem Diskussionsentwurf vorgeschlagen, die PID für schwere genetische Erkrankungen auch in Deutschland zuzulassen. Folgen hatte dieser Anstoß bisher keine. Das könnte sich nach der Grundsatzrede der Bundesjustizministerin nun ändern.

© Von Michael Simm - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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