11 000 Flüchtlinge hat Deutschland 2014 abgeschoben - so viele wie seit acht Jahren nicht mehr. Doch wo wird eigentlich darüber entschieden, ob jemand bleiben darf oder nicht? Ein schmuckloses, weißes Hochhaus in München-Obersendling. Hier befindet sich eine der 26 Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Vor der Tür drängen sich Männer, Frauen, Kinder aller Nationen. 18 000 Menschen warten allein in München auf die Bearbeitung ihres Asylantrags. Im dritten Stock sitzt Uwe Werner hinter seinem Schreibtisch.
Eine Packung Taschentücher liegt bereit, als Entscheider sieht er auch mal Tränen. Seit 20 Jahren urteilt er in seinem kahlen Büro darüber, wer Schutz braucht und wer nicht. Der freundliche ältere Herr im Wollpulli ist in der ehemaligen DDR groß geworden. Hat Philosophie studiert, für einen Chemiekonzern gearbeitet, dann kam die Wende und er stand auf der Straße. 1992, als in Deutschland schon einmal eine halbe Million Flüchtlinge ankamen, hat das BAMF ihn und zahlreiche weitere Quereinsteiger angeworben. An der Wand hinter ihm hängt Marx und reckt die Finger zum Victoryzeichen. Doch nicht jeder, der hier angehört wird, gewinnt: Nur 30 Prozent der Asylanträge wurden im vergangenen Jahr positiv beschieden.
SZ.de: Herr Werner, wieso erkennen Sie nur so wenige Asylanträge an?
Uwe Werner: Dass wir nur Asylanträge ablehnen, ist ein Vorurteil. Im letzten Jahr haben wir in Deutschland 41.000 Menschen anerkannt. Und dass nur 30 Prozent der Asylanträge positiv bescheiden werden, heißt nicht, dass die anderen 70 Prozent abgelehnt werden. Es gibt auch Fälle, für die nach dem Dublin-Verfahren andere Staaten zuständig sind. Aber natürlich muss ich Menschen auch eine Absage erteilen. Wer hier bleiben kann, muss in seinem Heimatland ernsthaften Gefahren ausgesetzt sein. Es gibt Länder mit zumeist eindeutigen Fällen. Syrer etwa bekommen derzeit zu 99 Prozent eine Aufenthaltsgenehmigung. Flüchtlinge aus dem Westbalkan nur in ganz wenigen Einzelfällen. Die Politiker haben entschieden, dass diese Länder sichere Herkunftsstaaten sind.

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Was sind das für Ausnahmen?
Zum Beispiel, wenn jemand wegen seiner Volkszugehörigkeit in so starkem Maße benachteiligt ist, dass es an unmenschliche Behandlung grenzt. Ich erinnere mich gut an eine Abgeordnete aus dem Kosovo. Ihr und ihrer Familie habe ich damals den Flüchtlingsschutz gegeben. Das ist schon Jahre her, aber ihre Geschichte war so schrecklich, dass ich sie nie vergessen werde. Die Frau hat mir in der Anhörung erzählt, welchen massiven Repressionen sie ausgesetzt war.
Wie läuft so eine Anhörung ab?
Jeder, der einen Asylantrag stellt, muss von uns angehört werden. Wir müssen dann entscheiden, ob seine Geschichte glaubhaft ist. Manchmal dauert so eine Anhörung einen ganzen Tag. Oft ist das sehr anstrengend. Ich muss auf den Menschen eingehen, darf aber auch die Verfahrensvorschriften nicht außer Acht lassen. Und obwohl immer ein Dolmetscher dabei ist, gibt es manchmal Verständnisprobleme. Es sitzen hier auch Menschen, die Analphabeten sind und mit dem deutschen Rechtssystem überhaupt nichts anfangen können. Andere haben Schwierigkeiten, über ihre schrecklichen Erlebnisse zu sprechen.
Wie gehen Sie dann vor?
So eine Verfolgungsgeschichte kann man natürlich nicht mit dem Holzhammer herausprügeln, man muss behutsam vorgehen. Wir bieten beispielsweise Frauen an, dass sie sich explizit weiblichen Mitarbeiterinnen anvertrauen können - etwa wenn sie vergewaltigt worden sind. Zudem habe ich eine Sonderausbildung für Gespräche mit Folteropfern. Dort lernt man etwa, dass Menschen, die Traumatisches erlebt haben, oft widersprüchliche Geschichten erzählen.

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Das klingt als würden Sie jede Menge schrecklicher Geschichten hören. Ist es nicht schwierig, eine Entscheidung zu treffen, wenn man Mitleid hat?
Natürlich habe ich solche Emotionen, aber die gehören hier nicht her. Wir sind im Verwaltungsverfahren an bestimmte Formalien gebunden. Manche erzählen mir von den bitterarmen Verhältnissen, in denen sie leben. Erzählen mir, wie verzweifelt sie sind. Aber das ist nach den gesetzlichen Vorgaben kein Grund, jemand als Flüchtling anzuerkennen. Andere Antragsteller haben Angehörige verloren oder sind selbst verletzt worden, waren im Gefängnis oder wurden gefoltert.
Wie überprüfen Sie solche Geschichten?
Die Antragsteller müssen die Verfolgung nicht beweisen im Sinne eines Gerichtsverfahrens. Es genügt, wenn ich den Vortrag für glaubhaft halte. Er muss detailliert, in sich stimmig, im Wesentlichen widerspruchsfrei sein.
Das klingt jetzt sehr holzschnittartig ...
So einfach ist das natürlich nicht. Oft fangen die Widersprüche schon bei ganz einfachen Dingen an. Das Geburtsdatum beispielsweise spielt in vielen Ländern keine Rolle. Für mich stellt sich aber die Frage, ob jemand minderjährig ist und damit bestimmte Betreuungsrechte hat. Manchmal zeige ich dann den landestypischen Kalender, zum Beispiel den afghanischen Mondkalender, der 700 Jahre zurück ist. Manchmal hilft das, manchmal nicht. Menschen aus Afrika haben oft Probleme, ihren früheren Wohnort zu nennen. Um den herauszufinden, brauche ich oft eine halbe Stunde. Ich muss dann nachfragen: War es ein Ort, war es eine Stadt? Wie heißt die Straße? Wie sah es dort aus? Eine Adressstruktur wie in Deutschland gibt es in vielen afrikanischen Ländern nicht. Keine Straßennamen, keine Hausnummern. Ich frage dann, wie man das Haus findet, frage nach den Nachbarn. Menschen, die aus gebildeteren Schichten stammen, geben gerne ein Postfach an. Aber damit können wir natürlich auch wenig anfangen, wenn wir vor Ort recherchieren wollen.
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Sie recherchieren vor Ort?
Wir vergleichen die Geschichten mit dem, was wir über das Herkunftsland des Antragstellers wissen. Wir haben manchmal Kollegen vor Ort, die für uns recherchieren. Auch Informationen von Amnesty International oder wissenschaftlichen Instituten nutzen wir - etwa um zu erfahren, wie es in einem bestimmten Gefängnis aussieht und zugeht. Und wenn mir jemand erzählt, sein Haus wurde angegriffen oder niedergebrannt, dann sollten die Nachbarn schon Auskunft darüber geben können. Wenn ich Zweifel an der Geschichte habe, frage ich nach.
Haben Sie so schon einmal jemanden der Lüge überführt?
Einmal hatte ich einen ganz jungen Afrikaner aus der Demokratischen Republik Kongo, der mir erzählt hat, dass er in einer der nördlichen Provinzen auf dem Nachhauseweg von der Schule von Rebellen entführt wurde. Seine Mitschülerinnen seien vergewaltigt und er und die anderen Jungs zum Wehrdienst gezwungen worden. Ein Arzt hatte ihm sogar eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert. In dem Fall wollte ich es genau wissen und habe ihn gefragt, an welcher Schule er war und dem Schulleiter, einem belgischen Missionar, geschrieben. Ich habe dann einen sehr ausführlichen und freundlichen Antwortbrief bekommen. Der Schulleiter hat die Geschichte Punkt für Punkt widerlegt. Aber ich würde nicht behaupten, dass ich es in jedem Fall merke, wenn jemand lügt.
Manchmal ist es sicher auch andersherum: Jemand erzählt die Wahrheit und Sie glauben ihm nicht.
Im Zweifel entscheide ich wohlwollend - auch wenn ich nicht restlos überzeugt bin. Ich versuche meine Entscheidungen so zu treffen, dass sie mir keine schlaflosen Nächte bereiten. Sonst wäre ich nach 20 Jahren nicht mehr dabei. Das ist auch Eigenschutz, denn so eine Entscheidung über ein Leben ist ja eine große Verantwortung.
Trotzdem machen Sie sich mit Ihrem Job sicher nicht immer beliebt.
Beim Thema Asylverfahren kursieren viele Gerüchte und es herrscht auch oftmals Unwissen. Anwälte bezeichnen mich manchmal als "abschiebegeil", dabei ist das Bundesamt gar nicht für die Abschiebung zuständig. Zudem habe ich persönlich kaum Spielraum bei meinen Entscheidungen. Es gibt Leitlinien, wo Verfolgung möglicherweise stattfinden kann und in welchen Konstellationen. Wenn ich entgegen solcher Leitlinien entscheidet, muss ich das gesondert begründen.
Etwa die Hälfte der Antragsteller, die abgelehnt werden, klagen gegen diese Entscheidung. Haben Sie manchmal Angst vor Rache?
In all den Jahren gab es nachträglich weder ein böses Wort noch eine Drohung. Da kommt mir sicherlich zu Gute, dass es etwas dauert bis die Anträge entschieden werden. Einige Zeit nach der Anhörung haben die Menschen vielleicht schon vergessen, wem sie damals ihre Geschichte erzählt haben. Obwohl ich mir natürlich auch wünschen würde, dass wir unsere Entscheidungen schneller treffen könnten.
Warum tun Sie das nicht?
Weil die Belastung wegen der hohen Asylantragszahlen im Moment enorm ist. Ich spreche jetzt nur von der Außenstelle München: Wir sind jetzt zehn Entscheider. Dem stehen mehr als 18 000 Asylanträge gegenüber. 60 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Natürlich kommen nun neue Kollegen dazu, aber die müssen erst einmal eingearbeitet werden.
In München haben in den vergangenen Monaten immer wieder Menschen gegen die lange Bearbeitungszeit ihrer Asylanträge protestiert. Sie saßen auf Bäumen oder hörten auf zu essen, um ihr Verfahren zu beschleunigen. Haben Sie dafür Verständnis?
Ich kann verstehen, dass Menschen möglichst schnell Klarheit haben möchten, ob sie in Deutschland bleiben können oder nicht. Und oft dauert das zu lange. Aber wegen eines Streiks Anträge Einzelner vorzuziehen, wäre allen anderen Antragstellern gegenüber ungerecht. Auf der anderen Seite werden diese Menschen offensichtlich auch schlecht informiert oder instrumentalisiert: Die Protestierenden haben eine bedingungslose Anerkennung ihres Asylantrags gefordert - auch bereits abgelehnte Antragsteller. Und das ist bar jeder gesetzlichen Möglichkeit.