Entführungsfall aus Kalifornien:Das Mädchen lächelte

Jaycee Lee Dugard, die in einem Zelt hauste, versuchte nie zu fliehen. Sie hat tiefe Gefühle für ihren Entführer. Und die Ermittler fragen: Ist der auch ein Frauenmörder?

R. Klüver

Zweifellos wird Jaycee Lee Dugards Entführung in die Annalen der an monströsen Fällen wahrlich nicht armen Geschichte amerikanischer Kriminalfälle eingehen - eine Kindesentführung, bei der das Opfer nach 18 Jahren freikommt. Aber es ist nicht nur das.

Entführungsfall aus Kalifornien: Philip Garrido soll für die Entführung der damals elfjährigen Jaycee Lee Dugard verantwortlich sein. Die junge Frau lebte lange in einem verwahrlosten Schuppen und Zelten auf Garridos Grundstück.

Philip Garrido soll für die Entführung der damals elfjährigen Jaycee Lee Dugard verantwortlich sein. Die junge Frau lebte lange in einem verwahrlosten Schuppen und Zelten auf Garridos Grundstück.

(Foto: Foto: dpa)

Es sind die bizarren Umstände, die diesen Fall herausheben: Die heute 29 Jahre alte Frau hat in der Zeit ihrer Gefangenschaft als Teenager offenbar ohne jede ärztliche Hilfe zwei Mädchen zur Welt gebracht, deren Vater der Entführer ist. Die Kinder wuchsen in Abgeschiedenheit auf, aber nicht völlig isoliert von der Außenwelt. Und allem Anschein nach hat ihre Mutter, zumindest als erwachsene Frau, nie eine Gelegenheit zur Flucht gesucht.

Wenige Tage nach der Befreiung im kalifornischen Antioch, keine Autostunde von San Francisco entfernt, bleibt die beunruhigende Frage, wie Jaycee Dugards Martyrium so lange Zeit hat unbemerkt bleiben können. Und weitere Fragen sind hinzugekommen: Wurden auch die Kinder von ihrem Vater, Phillip Garrido, sexuell missbraucht? Wieso wurde Garridos Ehefrau Nancy, die zusammen mit ihm wegen Entführung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung angeklagt wird, zur Komplizin? Ist Phillip Garrido gar ein Serientäter?

Dass die Polizei Hinweise auf merkwürdiges Benehmen des vorbestraften Sextäters Garrido nicht ernsthaft verfolgt hat, haben die Behörden selbst eingeräumt. Inzwischen ist auch klar, dass Jaycee Dugard entgegen ersten Einlassungen der Polizei nicht vollkommen isoliert von der Außenwelt in dem Hinterhof ihres Peinigers gehalten wurde. Nachbarn wussten von der jungen Frau und den Kindern auf dem Grundstück. Ihr Entführer unterhielt eine kleine Druckerei. Kunden kannten Dugard unter dem Namen Allissa. Und nichts ist geschehen, weil Garrido es wohl verstanden hat, einen Schein von Normalität herzustellen.

Garrido stellte sein Opfer als seine erwachsene Tochter vor. Er nannte sie sogar die "kreative Kraft" seines kleinen Betriebs. Tatsächlich erledigte Dugard wohl das Design der Briefköpfe und Visitenkarten, die Garrido druckte. Auf E-Mails von Kunden reagierte sie sofort. Doch nie machte sie offenbar auch nur eine Andeutung, die Verdacht hätte erregen können. "Sie hatte immer ein Lächeln im Gesicht", sagt Cheyvonne Molino, die Betreiberin eines Schrottplatzes, die bei Garrido drucken ließ und Dugard und ihre Töchter öfters gesprochen hat. "Die beiden waren gut erzogen und Fans von Hannah Montana," einem Teenie-Star aus dem US-Fernsehen.

Dugards Stiefvater Carl Probyn tritt unterdessen als eine Art Sprecher der Familie auf. Jedenfalls ist er der einzige, der Fernsehinterviews gibt. Dafür ist er sogar von Kalifornien nach New York geflogen. Dugard selbst und ihre beiden Mädchen sind momentan mit ihrer Mutter und Großmutter zusammen und werden von Psychologen betreut. Auch eine Schwester und eine Tante Dugards sind dabei. "Mom, ich habe Babys", habe Dugard als Erstes beim Wiedersehen mit ihrer Mutter am Donnerstag gesagt, berichtet Probyn.

Offenkundig habe sie ihren beiden Töchtern nie von der Entführung erzählt. Probyns Äußerungen legen nahe, dass die junge Frau am sogenannten Stockholm-Syndrom leidet, eine bei Geiselnahmen oder Entführungen verbreitete Erscheinung, bei der die Opfer sich mit den Tätern identifizieren und sich mitunter sogar in sie verlieben. "Jaycee hat tiefe Gefühle für den Kerl entwickelt", erzählt Probyn, "sie glaubt wirklich, dass es so etwas wie eine Ehe war." Nur elf Jahre habe seine Stieftochter mit ihrer Mutter verbracht, aber 18Jahre mit ihrem Entführer. "Eine so lange Zeit verbindet. Und das hat sie vermutlich am Leben erhalten. Sie waren fast wie eine kleine Familie." Tatsächlich zeigte der Kabelsender CNN Fotos von einer Geburtstagsfeier, die erst vor zwei Wochen aufgenommen worden waren und auf denen die Töchter Dugards in hellblauen Trägerkleidern zu sehen sind.

Die Ermittlungsbehörden haben Dugard offenbar bisher noch nicht vernommen. Die polizeilichen Ermittlungen konzentrieren sich vielmehr auf das Anwesen Garridos und auf ein Nachbargrundstück, das er vor ein paar Jahren gemietet hatte. Am Sonntag und Montag suchten Leichenspürhunde das Gelände ab. Die Polizei hält es für möglich, dass Garrido etwas mit dem Mord an neun Frauen in der Gegend zwischen 1998 und 2002 zu tun haben könnte. Eine der jungen Frauen war in der Nähe der damaligen Arbeitsstelle Garridos verschwunden.

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