Entführungen in Cleveland:Willkommener Held im großen Albtraum

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Der Held von Cleveland: Charles Ramsey. (Foto: AP)

Vom Tellerwäscher zum gefeierten Helden: Das ist die Geschichte, die jetzt über Charles Ramsey erzählt wird. Über jenen Mann, der geholfen hat, drei Frauen aus einem Haus in Cleveland zu befreien. Es ist die Geschichte eines amerikanischen Traums, auf die sich jetzt alle stürzen - um sich von einem Albtraum abzulenken.

Von Felicitas Kock

Er führt ein bescheidenes Leben, arbeitet als Spülkraft in einem schicken Restaurant, isst gerne Fast Food und grillt gelegentlich im Garten mit seinem Nachbarn Ariel Castro. Bis Montagnachmittag ist Charles Ramsey ein ganz normaler Bürger. Ein Niemand. Jetzt ist er berühmt. Vom Tellerwäscher zum Nationalhelden - das ist die Geschichte, die über den Mann aus Cleveland erzählt wird. Der amerikanische Traum, erfüllt innerhalb eines einzigen Augenblicks.

Innerhalb jenes Augenblicks, in dem er die Tür des Nachbarhauses eintritt und einer jungen Frau mit einem kleinen Kind an der Hand den Weg in die lang ersehnte Freiheit bahnt. Wie es dazu gekommen ist, weiß mittlerweile die ganze Welt: Ramsey stand in seinem Wohnzimmer, nahe der Eingangstür, aß einen Burger von McDonald's und hörte plötzlich Schreie. Er warf einen Blick zur Tür des Nachbarn und sah, "dass ein Mädchen wie verrückt versuchte, aus dem Haus zu entkommen". Er sei zu ihr gegangen und sie habe gesagt: "Helfen Sie mir hier raus, ich bin schon sehr lange hier." Er tat, was sie von ihm verlangte.

Seitdem wird der Afroamerikaner mit den halblangen schwarzen Haaren und der einnehmenden Erzählweise von den Medien gefeiert. Er ist derjenige, der berichten kann, was passiert ist. Einer, der bereitwillig Informationen herausgibt, die von der Polizei so noch nicht zu bekommen sind.

Wie Amanda Berry aussah, als sie durch das Loch in der Tür krabbelte, zum Beispiel: weißes Tanktop, geschminktes Gesicht, frisierte Haare. "Nicht so, als sei sie Opfer einer Entführung", sagt Ramsey. Wie er so gewesen ist, der Nachbar und Grill-Partner Ariel Castro, der nun gemeinsam mit seinen beiden Brüdern beschuldigt wird, Amanda Berry und zwei andere junge Frauen über Jahre gefangen gehalten zu haben: "Cool. Wie du und ich", beantwortet Ramsey die Frage eines Reporters. Sie hätten oft zusammengesessen und über ganz normale Dinge gesprochen. Er habe ein paarmal Kinder im Garten spielen sehen, aber er dachte, es seien Castros Enkel. Ob er jetzt noch ruhig schlafen kann, wo er weiß, wer Castro wirklich war: Nein.

Im Internet wird Ramsey als Held gefeiert. Die Menschen bezeichnen ihn als Vorbild und bedanken sich.

Der Hype um den couragierten Nachbarn nimmt mitunter skurrile Züge an. Die Fast-Food-Kette McDonald's hat sich bei ihm für die Aussage bedankt, er habe kurz vor seiner Rettungsaktion einen ihrer Burger gegessen. Kunden des Restaurants Hodge's, in dem Ramsey als Tellerwäscher arbeitet, fordern eine Gehaltserhöhung für den Mann. Und im Internet kursiert ein Rap-Video, das aus einem seiner zahlreichen Fernsehinterviews hergestellt wurde. Der Refrain basiert auf Ramseys viel zitiertem Satz: "Bruder, ich wusste, dass etwas nicht stimmt, als sich dieses hübsche kleine weiße Mädchen in die Arme eines schwarzen Mannes warf."

Und immer wieder wird die Vom-Tellerwäscher-zum-Nationalhelden-Geschichte erzählt. Er hat es durch eigenen Antrieb geschafft. Durch den Mut, zu handeln und nicht einfach wegzusehen. Es ist eine Heldengeschichte, wie sie die Menschen jetzt zu brauchen scheinen. Denn das extreme Interesse an Ramsey, das bisweilen fast größer ist, als das Interesse an den Opfern, hat nicht nur damit zu tun, dass die Öffentlichkeit nach Informationen giert und Ramsey sein Gesicht bereitwillig in die Fernsehkameras hält. Es hat auch etwas mit Verdrängung zu tun.

Die Menschen wollen jetzt offenbar feiern. Kaum war die frohe Kunde der Befreiung an die Öffentlichkeit gedrungen, da kamen die ersten Menschen auf die Straßen des Wohngebiets, in dem die Frauen gefangen gehalten wurden. Sie sangen und tanzten und jubelten. Die lange vermissten Mädchen waren befreit. Der Held - ein weiterer Grund, sich zu freuen - kam da gerade recht.

Doch sollte bei all dem Jubel nicht vergessen werden, dass hier drei junge Frauen zehn Jahre lang gelitten haben. Weder McDonald's sollte das vergessen, noch die Menschen, die sich das lustige Rap-Video ansehen, noch diejenigen, die in den Straßen feiern. Denn es wird zwar immer wieder betont, dass die Entführung am Ende "gut ausging", dass es den drei Befreiten "körperlich gutgeht", dass sie in einer guten Verfassung sind. Doch das, was diese drei Frauen in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben, dürfte die Hölle gewesen sein. Und nur weil alle anderen jetzt aufatmen, heißt es nicht, dass das Grauen mit der Befreiung ein Ende hat.

Kritik an der Aufregung um Ramsey wird mittlerweile noch aus einem anderen Grund laut. Er werde von den Medien lächerlich gemacht, heißt es. Weil er Reporter als "Bros" bezeichne und von "Cojones" speche, die man auf dieser Welt brauche, werde er als "der lustige Schwarze" dargestellt - wie viele andere vor ihm.

Ramsey wird mit dem Schauspieler Eddie Murphy verglichen, der für seine komischen Rollen bekannt ist. Und mit Antoine Dodson, der seine jüngere Schwester einst vor einem Einbrecher rettete - der aber "nur dafür berühmt wurde, wie auffällig er seine Geschichte einem Reporter erzählt hat", schreibt das Online-Magazin Slate. Ramsey, der gutmütige Clown, der drei Frauen und ein Kind gerettet hat - auch diese Richtung sollte die ernste Geschichte von Cleveland nicht nehmen.

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