Als die Fernsehnachrichten am vergangenen Wochenende Bilder von einem brennenden Hochhaus in Manchester zeigten, wurde manchem Zuschauer flau ums Herz: Zu sehr erinnerten die Eindrücke an den Brand im Grenfell Tower in London vor einem halben Jahr, als 71 Menschen ums Leben kamen. Die leicht entflammbare Fassade war in Brand geraten, das Hochhaus loderte innerhalb von Minuten wie eine Fackel. In Manchester ging diesmal alles glimpflich ab, es gab drei Leichtverletzte, und die Feuerwehr meldete schnell Entwarnung.
Beim Grenfell Tower hingegen gibt es keine Entwarnung, der Wohnturm im Londoner Westen ragt bis heute als schwarzes Mahnmal in den Himmel.
Stadt und Regierung hatten nach dem Brand im Juni versprochen, dass schnell und unbürokratisch geholfen würde, dass die Familien der Opfer gut versorgt und die Bewohner des unbewohnbar gewordenen Hochhauses bald neue Apartments bekommen würden. Zudem wurde eine unabhängige Untersuchung angekündigt, um herauszufinden, wer verantwortlich dafür ist, dass notwendige Brandschutzmaßnahmen nicht getroffen wurden und eine billige, als Außenhaut absolut ungeeignete Fassade verbaut wurde.
Aber das alte Jahr ging, das neue kam, und immer noch leben etwa hundert Familien in Hotels und Übergangswohnungen. Premierministerin Theresa May hatte Hilfe innerhalb von Wochen versprochen, doch nach drei Monaten musste die Stadtverwaltung einräumen, dass es weit schwieriger werde als gedacht, für mehr als 300 Mieter neue Unterkünfte zu finden. 20 Millionen Pfund (22,5 Millionen Euro) Spendengelder werden nur zögerlich ausgezahlt. Und die Untersuchung über die Ursachen läuft nur schleppend an.
Dass sich der Bezirk Kensington jetzt, nach dem Weihnachtsfest, dafür entschuldigte, dass eine versprochene Weihnachtshilfe, 140 Pfund pro Person, nicht bei allen angekommen war, ist daher nur eines der kleineren Probleme, denen sich Opfer und Aktivisten gegenübersehen. Weit größere Empörung hatte zuletzt ausgelöst, dass die Firma, die den Grenfell Tower, eine Art Sozialwohnungsanlage, bis zum großen Feuer verwaltet hatte, ihre Verantwortung für Dutzende weitere Wohnanlagen "an den Stadtbezirk zurückgibt", wie sie in einem Brief mitteilte. Man sehe sich derzeit nicht in der Lage, jene "Standards in Sachen Gesundheit und Sicherheit, Finanzen, Reparaturen und Dienstleistungen zu garantieren", die die Bewohner erwarten dürften. Die Hausverwaltung entledigt sich damit der Zuständigkeit für 9000 Wohnungen, nachdem ihr per Misstrauensvotum schon die Zuständigkeit für Sozialwohnungen entzogen worden war.
Einmal mehr verraten
Bei den ehemaligen Bewohnern des Grenfell Tower wie bei anderen Mietern hat diese Ankündigung Empörung ausgelöst: Sie fühlen sich von der privaten Hausverwaltung einmal mehr verraten - und fürchten außerdem, dass die Firma nun womöglich nicht mehr haftbar gemacht werden könne für ihr Missmanagement, das mit zu dem Brand geführt haben dürfte. Die Stadtverwaltung dementiert das, doch auch ihr trauen die Opfervereinigungen nicht mehr über den Weg. Behördenchaos und eine Sparpolitik auf Kosten der Armen hätten schließlich ursächlich mit zu dem Feuer geführt, heißt es.
Ebenso viel Skepsis schlägt dem pensionierten Richter Martin Moore-Bick entgegen, der seit September eine Untersuchung über Ursachen und Hintergründe des Brandes im Grenfell Tower leitet. Nach wochenlangen Vorbereitungsarbeiten soll nun die Anhörung von Zeugen und Fachleuten beginnen, aber die Opferverbände beklagen immer noch, dass sie selbst keine Stimme in der Untersuchung unter Vorsitz von Moore-Bick hätten. Deshalb wird derzeit über ein beratendes Gremium aus Mitgliedern der Opferfamilien diskutiert.
Und auch die Polizei hat noch sehr viel Arbeit vor sich. Ermittelt wird wegen gemeinschaftlichen Mordes und Verstoßes gegen Sicherheitsauflagen. 31 Millionen Dokumente und 25 000 Beweisstücke wurden bisher sichergestellt, 1144 Zeugen befragt, fast 400 Unternehmen werden ins Visier genommen. Das kann dauern. Die unabhängige Kommission immerhin will im kommenden Herbst einen ersten Bericht vorlegen.