Emanuela Orlandi:Welche Rolle spielte der Vatikan beim Verschwinden dieses Mädchens?

Entführungsfall Emanuela Orlandi

Emanuela Orlandi verschwand am 22. Juni 1983 spurlos.

(Foto: dpa)
  • Im Fall um das mysteriöse Verschwinden eines Mädchens in Italien vor mehr als 30 Jahren macht ein neu aufgetauchtes Dokument Schlagzeilen.
  • Demnach soll der Vatikan jahrelang Geld ausgegeben haben, um sie in einem Internat zu verstecken.
  • Die Echtheit des Dokuments wird aber angezweifelt.

Von Oliver Meiler, Rom

Alle Schatten sind wieder da, das ganze Mysterium um ein verschwundenes Mädchen, wie hingeweht aus einer fernen Zeit. Die italienischen Zeitungen verhandeln in diesen Tagen in langen Berichten und Analysen das Rätsel um Emanuela Orlandi, Tochter eines vatikanischen Angestellten, die an einem Sommertag 1983 einfach verschwand. Mitten in Rom, für immer, spurlos. Von allen Kriminalfällen der jüngeren italienischen Vergangenheit ist der Fall Orlandi ein besonders seltsamer. Anlass zu weiteren Nachforschungen gibt nun ein neues, fünfseitiges Dokument, das angeblich jahrelang in einem Safe im Vatikan versteckt gewesen war und jetzt plötzlich auftauchte. Wenn stimmt, was darin steht, dann wirft es ungeheuerliche Fragen auf. Stimmt es nicht, ist das fast genauso bedenklich.

Emanuela Orlandi verschwand am Nachmittag des 22. Juni 1983 kurz nach ihrer Musikstunde in einem Palazzo an der Piazza Sant'Apollinare. Aus einer Telefonkabine rief sie ihre Eltern an, um ihnen zu sagen, dass sie etwas später nach Hause kommen würde. Sie war fünfzehn, ein fröhliches, hübsches Mädchen. Am Tag danach ging ihr Vater, der als einfacher Bediensteter in der Präfektur des Päpstlichen Hauses arbeitete, zur Polizei. Es begann eine lange, erfolglose Suchoperation.

Einige Monate später meldete sich ein Mann mit amerikanischem Akzent bei der Familie und gab sich als Vertreter der Grauen Wölfe aus, einer rechtsextremistischen türkischen Gruppe. Er sagte, die Gruppe habe Emanuela als Geisel genommen und lasse sie erst wieder frei, wenn Ali Ağca freikomme. Ali Ağca hatte zwei Jahre davor versucht, Papst Johannes Paul II. umzubringen. "L'Americano" rief bald nicht mehr an, die Spur versandete.

Dann kam die Spekulation auf, die römische Mafia, die "Banda della Magliana", habe Emanuela verschleppt, getötet und in einem Friedhof vor der Stadt bestattet. Es gab gar einen konkreten Hinweis, wo sie liegen sollte. Die Justiz ließ die Leiche ausgraben und analysieren, es stellte sich heraus, dass es die Gebeine eines Bosses waren. In der Folge hieß es, der KGB habe eine Rolle gespielt beim Verschwinden von Emanuela, dann die CIA oder die sizilianische Mafia. Und natürlich gibt es bis heute die Vermutung, dass Emanuela sexuell missbraucht worden sei, womöglich von Herrschaften der Kirche. Nichts konnte je nachgewiesen werden, vor zwei Jahren hat die Justiz den Fall zu den Akten gelegt.

Dennoch glauben viele Italiener, dass Orlandi Opfer eines schändlichen Verbrechens wurde - sie gebrauchen dafür das Wort "inconfessabile". Das sagt man dann, wenn etwas so schlimm ist, dass es sich nicht einmal beichten lässt. Das Dokument, das der Journalist Emiliano Fittipaldi für sein neues Buch "Gli impostori" (Die Hochstapler), zugespielt erhielt, soll nun belegen, dass alle bisherigen Mutmaßungen falsch waren.

Wie glaubwürdig ist das Dokument? Zweifel sind angebracht

Demnach soll der Vatikan von 1983 bis 1997 umgerechnet eine Viertelmillion Euro dafür ausgegeben haben, dass Emanuela Orlandi in dieser Zeit fernab von Rom, in einem Internat in England, leben konnte - weggesteckt, mit unbeichtbaren Geheimnissen? Das Dokument ist eine "summarische Kostenaufstellung". Irgendwo soll es noch 197 Seiten mit Quittungen und Rechnungen geben, etwa für Medikamente und Arztbesuche. "Transfer in den Vatikan für die Vollführung finaler Prozeduren", heißt es im letzten Eintrag, 1997. Er liest sich so, als wäre Emanuela Orlandi nach 14 Jahren im Versteck nach Rom zurückgebracht und umgebracht worden.

Wie glaubwürdig ist das? Fittipaldi sagt, er habe das Papier von einer Quelle aus dem Vatikan erhalten. Ob es echt sei oder nicht, könne er nicht sagen. Zweifel sind angebracht: Der angebliche Verfasser, ein längst verstorbener italienischer Kardinal, gebraucht eine unübliche Anrede und schreibt den Namen eines Kollegen falsch. Fittipaldi sagt: "Wenn dieses Dokument aus dem Vatikan eine Fälschung ist, dann deutet das darauf hin, dass die Kurie von einem neuen Konflikt zerrissen wird, dann beginnt wohl nun 'Vati-Leaks III'." Die dritte Folge also im Skandalreigen um immer neue Enthüllungen aus dem Inneren der Kirche.

Der Heilige Stuhl dementiert mit ungewohnt scharfem Tonfall, dass das Dokument echt sei. "Total falsch" und "rufschädigend" seien deshalb auch die Schlussfolgerungen. Pietro Orlandi, der Bruder von Emanuela, schreibt auf Facebook: "Die Mauer beginnt zu bröckeln." Er hat nie aufgehört, nach seiner Schwester zu suchen. Bis heute nicht. Lebte sie noch, wäre sie nun 49 Jahre alt.

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