Süddeutsche Zeitung

Fall Emanuela Orlandi: "Sucht, wo der Engel hinschaut"

  • Im Jahr 1983 verschwand in Rom ein damals 15 Jahre altes Mädchen.
  • Seitdem ranken sich viele Theorien darum, was mit Emanuela Orlandi passiert sein könnte.
  • Nach einem Brief an die Familie des Mädchens lässt der Vatikan nun zwei Gräber auf einem Friedhof des deutschen Pilgerkollegs öffnen.

Von Oliver Meiler, Rom

Alle Hoffnung hängt nun an einem Engel aus Marmor, auch wenn diese Hoffnung eine traurige Vermutung bestätigen würde. Auf dem kleinen Friedhof des deutschen Pilgerkollegs, dem "Campo Santo Teutonico" im Vatikan, einem schattigen Ort der Einkehr zwischen Petersdom und Audienzhalle, werden an diesem Donnerstag zwei Gräber geöffnet. Gesucht wird nicht nach den Gebeinen derer, die da ausweislich bestattet liegen, nämlich die Adligen Sophia von Hohenlohe und Charlotte Friederike zu Mecklenburg, gestorben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sondern nach dem Leichnam eines Mädchens, der dort womöglich heimlich beigesetzt worden ist.

Emanuela Orlandi, Tochter eines päpstlichen Hofdieners, war 15 Jahre alt, als sie am 22. Juni 1983 spurlos verschwand, kurz nach ihrer Musikstunde in der Nähe der Piazza Navona, im weltlichen Teil Roms. Seither ranken sich Theorien in Fülle um diesen mysteriösen Fall, es ist einer der rätselhaftesten in der an Rätseln durchaus reich bestückten Kriminalgeschichte Italiens.

Wenn nun, 36 Jahre danach, das vatikanische Staatssekretariat, so etwas wie die Verwaltungszentrale der katholischen Kirche, eine Untersuchung in dem Fall zugelassen hat, samt Graböffnung, dann hat das mit einem anonymen Brief zu tun, den die Familie Orlandi im vergangenen Sommer erhalten hatte. Im Umschlag lag das Foto eines Marmorengels auf dem "Campo Santo Teutonico", der nach unten schaut. In den Händen hält er eine Tafel, auf der steht: "Requiescat in pace", Lateinisch für "Ruhe in Frieden". Dazu die Aufforderung: "Sucht, wo der Engel hinschaut."

Die Spur führt zum Friedhof

Emanuelas Bruder Pietro Orlandi, der in all den Jahren immer dafür gesorgt hat, dass die Italiener das Schicksal seiner Schwester nicht vergessen, ging bald mit dem Brief zum Vatikan. In der Zwischenzeit hatte er nämlich, wie er den italienischen Medien erzählte, Aussagen von Zeugen aus dem Innern des Vatikans gesammelt, und diese Kreise bestätigten ganz offen, dass die Spur zum Friedhof Klarheit schaffen könnte. Nur dank dieser zusätzlichen Hinweise habe er überhaupt erst darauf gedrungen, dass die Gräber geöffnet würden. Der anonyme Brief sei ihm zu wenig gewesen. "Ich glaube ja noch immer, dass sie lebt", sagte Pietro Orlandi dieser Tage. Doch wenn es nicht so sein sollte, dann wäre er froh um Gewissheit.

Es vergingen wieder Monate, bis der Vatikan endlich reagierte. Dann aber tat er es in aller Form, mit einem Bulletin. Darin erklärte das Staatssekretariat, dass es eine interne Ermittlung eingeleitet habe. Es sollen in der Sache auch etliche ehemals hohe Würdenträger befragt werden, so unter anderem auch die früheren Staatssekretäre Angelo Sodano und Tarcisio Bertone.

Zur Öffnung der Gräber, die der Vatikan als "komplexe Organisation von Menschen und Mitteln" beschreibt, ist nur ein kleiner Kreis geladen: Experten, Techniker, vatikanische Ermittler, Beamte der Gendarmerie, Angehörige der beiden Adelsfamilien und die Orlandis. Journalisten, die gerne dabei gewesen wären, wurden abgewiesen. Anfragen gab es natürlich zuhauf. Der "Campo Santo Teutonico" ist für den Sommer geschlossen. Natürlich werden danach noch einmal Wochen vergehen, bis Erkenntnisse da sind, allein die Abgleichung des Genmaterials braucht ihre Zeit.

Viele Hinweise erwiesen sich als falsch

Das Bulletin des Heiligen Stuhls schließt mit einem Satz: "Wir halten es für geboten, daran zu erinnern, dass es im Fall Orlandi in den vergangenen Jahren schon viele Hinweise gab, die sich dann als gegenstandslos erwiesen haben." Der jüngste liegt nur ein Jahr zurück. Da fand man unter den Fliesen der apostolischen Nuntiatur in Rom menschliche Überreste, die sich zunächst nicht zuordnen ließen. Die Aufregung war groß, die Zeitungen waren wieder voll, im italienischen Fernsehen wurden alte Dokumentarfilme aktualisiert. Dann stellte sich heraus, dass es sich bei dem Fund um ein Skelett aus der Antike handelte.

Keine Fährte blieb in den vergangenen drei Jahrzehnten unerforscht, juristisch und medial. Eine führte in die Entourage von Mehmet Ali Ağca, dem Mann, der das Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte, eine weitere in die Zwischenwelt der römischen Mafia. Ausführlich behandelt wurde auch der Verdacht, das Mädchen sei missbraucht worden in einer Sexorgie im Vatikan. Doch keine Theorie ließ sich bisher mit Indizien füllen. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn nun tatsächlich Knochen von Emanuela Orlandi in einem der Gräber gefunden würden, jedenfalls nicht unmittelbar.

Allerdings würde dann eine Frage ganz prominent über dem Kirchenstaat hängen: Wer, um Himmels willen, wollte die Gebeine des Mädchens für immer im Vatikan verstecken?

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Quelle:
SZ vom 11.07.2019/vs/jael
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