Es gab Momente, in denen der Prozess gegen Joaquín Guzmán an eine Hollywood-Produktion erinnerte. Oder zumindest an eine Serie über einen mexikanischen Drogenboss, die so überdreht ist, dass der Schrecken des organisierten Verbrechens fast schon lächerlich erscheint. In der vergangenen Woche kamen sich Gerichtsrealität und Netflix-Fiktion dann tatsächlich ganz nahe. Alejandro Edda machte seine Aufwartung im Eastern District Court im New Yorker Stadtteil Brooklyn - der mexikanische Schauspieler verkörpert in der Serie Narcos: Mexico jenen Mann, über dessen Schicksal nun eine zwölfköpfige Jury zu entscheiden hat: "El Chapo", der Kurze - seinem Spitznamen zum Trotz bis zu seiner Festnahme einer der Größten im Kokain-Geschäft zwischen Kolumbien, Mexiko und den USA.
Das zumindest versuchte die amerikanische Staatsanwaltschaft Guzmán in den vergangenen gut zwei Monaten nachzuweisen. 17 Anklagepunkte hatte sie gegen den 61-Jährigen zusammengetragen, zehn blieben am Ende übrig. Im Kern geht es darum, dass "El Chapo" als einer der führenden Köpfe des mexikanischen Sinaloa-Kartells über Jahrzehnte eine kriminelle Organisation unterhielt, die Hunderte Tonnen Drogen in die USA schmuggelte und dabei Milliarden verdiente. Die 30 Morde, die in der Anklage aufgeführt sind - kaum mehr als eine Randnotiz. Am ersten Verhandlungstag Mitte November ermahnte der Vorsitzende Richter Brian Cogan die Staatsanwälte, aus dem Drogenprozess doch bitteschön keinen Mordprozess zu machen.
USA:"El Chapos" Gefängnis soll härter sein als Guantánamo
Der mexikanische Drogenboss sitzt im Metropolitan Correctional Center mitten in Manhattan ein. Im berüchtigten Flügel "South 10" ist die Isolation so extrem, dass die Inhaftierten über eine verkümmerte Sehfähigkeit klagen.
Für die US-Anklagebehörde ist das Verfahren auch ohne Urteil bereits ein Erfolg. Guzmán hatte sich in der Vergangenheit wiederholt der mexikanischen Strafverfolgung entzogen, indem er aus Gefängnissen floh. Für den Prozess in New York bedeutete das nicht nur hohe Sicherheitsvorkehrungen, sondern auch die Garantie eines selbst für Big-Apple-Verhältnisse riesigen Spektakels.
So machte allein schon Guzmáns Weg zum Gericht Schlagzeilen: Um den berüchtigten Drogenboss vom Hochsicherheitsgefängnis in Downtown Manhattan zum Estern District Court in Brooklyn zu bringen, wurde an jedem Prozesstag die Brooklyn Bridge zeitweise gesperrt. In seiner Heimat Sinaloa, einem bergigen Bundesstaat im Westen Mexikos, wird "El Chapo" wie ein Heiliger verehrt. Die Furcht war groß, dass es dem Ausbrecherkönig mithilfe seiner Anhänger ein weiteres Mal gelingen könnte, zu entkommen. Bei seinem letzten Fluchtcoup 2015 war "El Chapo" durch einen anderthalb Kilometer langen Tunnel entschwunden - auf einem von Helfern bereitgestellten Motorrad.
Ehemalige Vertraute des Drogenbosses packten vor Gericht aus
Vor Gericht in Brooklyn sah sich Guzmán dann tatsächlich vor allem jenen Menschen gegenüber, die seine illustre Verbrecherkarriere (vorerst) beendeten: ehemalige Vertraute, die nun gegen ihn aussagten. Wie Pedro Flores, der gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Margarito zu den verlässlichsten Partnern des mexikanischen Kartellchefs auf der anderen Seite der Grenze gehörte. Von Chicago aus verteilten die Flores-Brüder "El Chapos" Drogen weiter in alle Teile der USA. Zwischen 1500 und 2000 Kilo Kokain erhielten sie monatlich. Geschätzter Gesamtumsatz: 800 Millionen Dollar.
Doch irgendwann wurde den Brüdern die lukrative Geschäftsbeziehung zu gefährlich - sie begannen, ihre Telefonate mit Guzmán aufzuzeichnen und stellten sich 2008 schließlich selbst der US-Anti-Drogenbehörde DEA. Ausschlaggebend für diesen Schritt war wohl auch, dass die Brüder die blutige Seite von "El Chapos" Unternehmung kennengelernt hatten: Pedro Flores gab vor Gericht zu Protokoll, bei einem seiner Besuche in Mexiko einen nackten, an einen Baum gefesselten Mann gesehen zu haben.
Mehr als 50 Zeugen hörte die Jury in den elf Prozess-Wochen, 14 davon waren frühere Mitarbeiter von "El Chapo". Der in Kartellkreisen prominenteste Überläufer: Vicente Zambada Niebla. Sohn jenes Mannes, dem Guzmáns Anwälten zufolge eigentlich der unrühmliche Titel als "gefährlichster Drogendealer Mexikos" gebühren müsste: Ismael Zambada García, Spitzname "Mayo", der bis heute auf der Most-Wanted-Liste der DEA steht. Zambada Junior schilderte im Zeugenstand freimütig, wie sein Vater und Geschäftspartner Guzmán den Drogenhandel in die USA professionalisierten. Kein Transportmittel war ihnen demnach zu abwegig - neben Autos, Lastwagen, Zügen und Kleinflugzeugen setzten sie auch ein U-Boot ein. Aus "El Chapo" wurde in diesem Zuge irgendwann "El Rapido", der Flotte.
Um einen reibungslosen Ablauf ihrer Schmuggeloperationen zu gewährleisten, zahlte das Duo Schmiergelder. Das monatliche Bestechungsgeldbudget seines Vaters habe oft mehr als eine Million US-Dollar betragen, so Zambada Junior. Einem anderen Zeugen zufolge stand auf der Gehaltsliste der Drogenbarone sogar ein ehemaliger mexikanischer Präsident: Enrique Peña Nieto, von 2012 bis 2018 im Amt, bekam demnach 100 Millionen US-Dollar von El Chapo - im Gegenzug soll Peña Nieto dem damals flüchtigen Guzmán versprochen haben, die Fahndung nach ihm einzustellen.
Die Verteidigung präsentierte über die ganze Zeit nur einen einzigen eigenen Entlastungszeugen - einen FBI-Agenten, der bezeugen sollte, wer "El Chapo" in den Augen seiner Anwälte ist: das Opfer einer mexikanisch-amerikanischen Verschwörung auf höchster Ebene, der Sündenbock eines korrupten Systems aus Politik und Polizei. Ein vielleicht nicht gänzlich, aber zumindest im Sinne der Anklage Unschuldiger. Um die Jury von der Harmlosigkeit seines Mandanten zu überzeugen, schreckte Jeffrey Lichtman - einer von drei Anwälten El Chapos - auch nicht davor zurück, Witze über die geringe Körpergröße seines Klienten zu machen. "Dieser 60-jährige Mann, der nur so groß ist, soll Leute drei Stunden lang mit einem Ast verprügelt haben?", scherzte er noch in der vergangenen Woche. Seine Hand hielt er dabei auf Hüfthöhe.
Tatsächlich wirkte "El Chapo" vor Gericht oft mehr wie ein jugendlicher Delinquent, denn wie der skrupellose Drogenboss, als den ihn die vielen Zeugen charakterisierten. Seine 29-jährige Ehefrau Emma Coronel Aispuro, die an fast jedem Prozesstag anwesend war, begrüßte er mit überschwänglichem Winken. Und auch über den Besuch seines Leinwand-Alter-Egos in der vergangenen Woche schien er sich zu freuen. Der echte "El Chapo" begrüßte den Netflix-"El-Chapo" mit einem breiten Grinsen. Ein US Marshal sah sich genötigt, zumindest im Zuschauerbereich den Fokus wieder auf das eigentliche Geschehen zu lenken: Ein hochgereckter Daumen oder andere Begrüßungsgesten in Richtung des prominenten Gastes seien unangebracht - "wir sind hier nicht bei Comedy Central. Das ist nicht zum Lachen."
Erschreckende Details, für die in diesem Verfahren kein Platz ist
Auch wenn das Verfahren gegen Joaquín Guzmán Loera mitunter wie eine makaber-unterhaltsame Inszenierung wirkte - die Beweislast gegen "El Chapo" erscheint erdrückend. Einige Dokumente wurden bewusst erst öffentlich gemacht, nachdem die offizielle Beweisaufnahme bereits abgeschlossen war, um die Jury vor ihren Beratungen nicht negativ zu beeinflussen. Demnach soll "El Chapo" regelmäßig junge Mädchen vergewaltigt und sie als seine "Vitamine" bezeichnet haben. Im laufenden Verfahren sind diese erschreckenden Details allerdings nicht von Belang - es konzentriert sich ausschließlich auf "El Chapos" Rolle im internationalen Drogenhandel.
Staatsanwältin Andrea Goldbarg hatte in ihrem Schlussplädoyer in der vergangenen Woche an die Jury appelliert, den Angeklagten in allen Punkten schuldig zu sprechen. "El Chapo" dürfe seiner Verantwortung nicht entkommen. Eine Sprecherin des New Yorker Justizministeriums konnte sich im Anschluss einen Seitenhieb in Richtung Verteidigung nicht verkneifen - Guzmáns Anwälte hatten wiederholt die Zeugen der Anklage als unglaubwürdig bezeichnet, weil diese selbst Kriminelle seien: "An dem Tag, an dem Kokain-Deals im Himmel geschlossen werden, kann die US-Regierung Engel als Zeugen aufrufen."
An diesem Montag beginnt die Jury mit ihren Beratungen. Wann ein Urteil fällt, ist unklar. Selbst wenn "El Chapo" im Prozess in New York freigesprochen werden sollte - ihm drohen Anklagen in mindestens drei weiteren amerikanischen Städten.