Eislingen-Prozess:"Ich frage mich, wie wir so werden konnten"

Nach dem Vierfachmord von Eislingen stehen zwei Jugendliche vor Gericht, die sich selbst nicht begreifen. Wie aus einem "Scheiß-Witz" ein Verbrechen wurde.

Bernd Dörries

Sie haben sich lange geschrieben und über dies und das gesprochen. Über Filme und Liebe, über Gott und die Welt. Frederik B., 19, hatte noch nie eine Freundin, in einem Italien-Urlaub lernte er 2008 Carolyn kennen, danach trafen sie sich täglich im Internet-Chat. Carolyn verliebte sich ein wenig in Frederik. Sie sprachen über Heirat und die Zukunft. Die Zukunft wurde Carolyn dann doch zu kompliziert. Sie in Luxemburg, Frederik in Eislingen bei Göppingen.

AP, Eislingen, Mord, vier

Warum mussten vier Menschen sterben, der Vater, die Mutter, die Schwestern? Eine der Leichen wird nach dem Blutbad im April vom Wohnhaus der Familie H. in Eislingen weggebracht.

(Foto: Foto: AP)

Sie haben sich erst am Montag wiedergetroffen, ohne sich anzusehen, obwohl sie doch nur einen Meter voneinander entfernt sitzen im Saal des Ulmer Landgerichts. Frederik gilt nun als vierfacher mutmaßlicher Mörder. Carolyn geht immer noch zur Schule. Sie sitzt auf dem Zeugenstuhl, ein dünnes, hübsches Mädchen mit dunkelroten Haaren, das erzählt, was ihm an Frederik gefallen hat: Er sei so ruhig und hilfsbereit und verständnisvoll.

"So etwas findet man heute nicht so leicht", sagt Carolyn, 18.

Ob sie Frederik öfter getroffen hätte, wenn die Entfernung nicht so groß wäre, wenn sie beispielsweise in Stuttgart gewohnt hätte, fragt Klaus Schulz, der Verteidiger von Frederik. "Ja", sagt Carolyn. "Schade, dass Sie nicht in Stuttgart gewohnt haben", sagt der Anwalt. Vielleicht wäre dann alles nicht passiert.

Am Gründonnerstag haben Andreas H. und sein bester Freund Frederik B., beide 19 Jahre alt, erst die beiden Schwestern von Andreas erschossen: Ann-Christin, 24, und Annemarie, 22. Und dann die Eltern, Hansjürgen H., 57, seine Frau Else 55. Eine der Schwestern habe noch gesagt: "Hey, was soll der Scheiß?", bevor sie die Kugeln trafen. Andreas H. stand vor ihr und sagte: "Ja, so ist sie, arrogant bis zum Schluss."

Das Verfahren gegen die zwei vor dem Landgericht Ulm findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, neun Journalisten wurden ausgelost, die in den Saal dürfen, die Süddeutsche Zeitung hat mittlerweile als Nachrücker Gelegenheit, den Prozess zu verfolgen. Seit Mitte Oktober versucht das Gericht zu klären, wie es zu der Tat kommen konnte. Es ist eine Frage, die vielleicht nie ganz beantwortet wird. Weil auch die beiden Angeklagten nicht auf alles eine Antwort haben. "Ich frage mich, wie wir so werden konnten?", hat Frederik in einem Brief aus dem Gefängnis geschrieben.

"Der oder ich?"

Andreas, sagt sein Anwalt Hans Steffan, habe unter seinem Vater gelitten. Einem Menschen, der den Sohn nicht geschlagen habe, der aber so dominant gewesen sei, dass Andreas letztlich vor der Frage gestanden habe: Der oder ich? "Andreas haben der Respekt, die Zuneigung und die Solidarität der Familie gefehlt", sagt Steffan. Der Sohn habe unter Selbstmordgedanken gelitten, dann aber die Tötungsabsicht auf den Vater gelenkt.

Die Tat im April 2009 war lange geplant und manchmal, so schreibt Frederik in seinem Brief, habe er Andreas gefragt, ob er denn nicht auch gute Erinnerungen habe an seine Familie. "Die bleiben mir ja auch", habe der dann gesagt. "Das war der Zynismus auf die Spitze getrieben. Jetzt kann ich es kaum fassen, dass wir das alles für einen Scheiß-Witz gehalten haben", schreibt Frederik.

Es ist ein Brief, der vielleicht gar nicht so weit weg ist von dem, was Amokläufer denken und auch schon aufgeschrieben haben. "Ich war der klassische Außenseiter, ein Gemobbter." Und jetzt vor Gericht bekommt er es noch einmal von fast jedem Zeugen gesagt.

Manche sprechen es direkt an, wie der ehemalige Mitschüler Tim W., der sich noch im Gerichtssaal über dessen Klamotten lustig macht. Die meisten anderen sagen, dass man nicht viel sagen könne über Frederik. Außer, dass er halt da war. "Nett, dass er dabei gewesen ist", sagt der Jugendleiter aus dem Schützenverein über seine Leistungen und den Eindruck, den Frederik hinterlassen hat. Selbst vor Gericht noch ist es Andreas, der im Mittelpunkt steht, Frederik ist mal wieder nur dabei. Obwohl er es war, der schließlich geschossen hat. Weil Andreas nicht konnte. Frederik hat Menschen getötet, gegen die er gar nichts hatte. Aus Freundschaft wohl, weil er sonst niemanden hatte außer Andreas.

Das Gefängnis hat sie bleich gemacht

Sein Leben veränderte sich, nachdem er ihn getroffen hatte, seinen ersten richtigen Freund. Beide gingen in dieselbe Klassenstufe des Wirtschaftsgymnasiums in Göppingen. Auf einem Klassenausflug hatte Andreas einmal die Idee, einen Flachbildschirm zu klauen. Das Klauen machte Spaß, und sie stahlen mehr. Sie nahmen sich ein Auto und rannten davon, als sie die Polizei kontrollieren wollte. Sie brachen in ihre Schule ein, ins Tennisheim und in einen Supermarkt. Und im Oktober 2008 stiegen sie in den Schützenverein ein, in dem beide Mitglied waren, sie stahlen 17 Waffen. "Wir haben gedacht, das Leben ist wie ein Film. Während andere solche Filme geschaut haben, haben wir es getan", schreibt Frederik.

Jetzt ist der Film vorbei. Wenn man nur die Fotos der beiden gesehen hat, dann ist es schwer, sie im Gerichtssaal wiederzuerkennen. Das Gefängnis hat sie bleich gemacht, staubig. Sie schlurfen in den Saal, langsam und vorsichtig sind ihre Schritte, weil sie es noch nicht im Gespür haben, wann die Fußketten zu Ende sind. Dann werden ihnen die Handfesseln abgenommen, und beide begeben sich in ihre jeweilige Haltung, die sie über viele Stunden nicht aufgeben werden. Andreas macht sich Notizen. Frederik schlägt die Beine übereinander, lässt seinen Oberkörper nach vorne kippen und stützt sich mit den Unterarmen auf den Schenkeln ab. Den Blick nach unten.

An einem Verhandlungstag fängt bei Frederik die Nase zu bluten an. Das Blut läuft zehn Minuten lang, bis es der Richter sieht und unterbricht. Frederik wird wieder gefesselt und läuft mit der blutenden Nase nur Zentimeter an der Mutter vorbei, die gar nicht weiß, wo sie hinschauen kann, die nun nicht helfen und Mutter sein darf. Er sei eigentlich mal stolz gewesen auf den Sohn, sagt Manfred B. am Montag vor Gericht. Er dachte, sein Sohn wäre auf einem guten Weg. "Er war ein ängstliches Kind. Durch Andreas ist er mehr aus sich raus."

Vererbter Narzissmus

Andreas war ziemlich genau das Gegenteil von Frederik, er wird von Zeugen als "Sunnyboy" beschrieben. Er sah gut aus und ließ nach Ansicht von Bekannten keine Gelegenheit aus, seinen athletischen Körper zu zeigen. "Er redet gern, auch von sich", sagt eine Freundin. Andreas kümmert sich bei der DLRG um Kinder und hilft in der Kirche mit. Noch nach der Tat sprechen viele Bekannte im Gericht bewundernd von diesem Burschen. Er war Teil der Vorzeigefamilie, denn so haben die meisten in Eislingen die H.s gesehen. Und so hat sich die Familie auch gerne präsentiert.

Innen sah es nicht immer so harmonisch aus. Der Vater stellte die Regeln auf, und sei "völlig ausgetickt", wenn diese nicht eingehalten wurden, sagt die Cousine von Andreas. Später habe er seiner Familie den Kontakt zu Verwandten verboten, weil er eine Taufe nicht mitorganisieren durfte. In manchem waren sich der Vater und der Sohn offenbar sehr ähnlich. Sie konnten gut reden und sahen gut aus und wussten um ihre Wirkung auf andere. Und "sie waren beide Sturköpfe", sagt der Freund einer der getöteten Schwestern. Es klingt wie eine Art vererbter Narzissmus. Und für den Narziss kann es schon eine Kränkung bedeuten, wenn er nicht bevorzugt wird. Noch am Vorabend der Tat beschwerte sich Andreas, dass seine Schwestern ein Auto hatten und er nicht.

Die Staatsanwaltschaft sieht hingegen Habgier als Motiv. Sie glaubt, dass Andreas und Frederik an das Erbe wollten. Erst im Februar hatte Andreas eine Vollmacht über ein Schweizer Konto erhalten, auf dem 250.000 Euro liegen. Dazu kommen einige Immobilien. Hinweise, dass die beiden nur töteten, weil sie Geld wollten, hat das Verfahren bisher allerdings nicht wirklich gebracht. Die Frage wird für das Strafmaß aber mitentscheidend sein. Habgier spricht eher für eine Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht. Der Hass auf die Familie und der falsch verstandene Freundschaftsdienst eher für Jugendstrafrecht - das wiederum würde eine Maximalstrafe von zehn Jahren bedeuten.

"Ein Jahr später", sagt Anwalt Schulz, "wäre Frederik sicher schon reifer gewesen, dann wäre das Ganze nicht passiert." Frederik hätte die Schule hinter sich gebracht und vielleicht auch eine Freundin gefunden.

Vielleicht hätte Carolyn nur in Stuttgart wohnen müssen.

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