Ein Jahr nach der Flutkatastrophe in Pakistan:Das war ihr Leben

Erbarmungslos zerstörten die Wassermassen im vergangenen Sommer weite Teile Pakistans. Ein Jahr nach der Flutkatastrophe sind die Orte, die Dörfer waren, noch immer Ruinen. Auf fremde Hilfe hofft keiner mehr.

Tobias Matern, Nowshera

Der Fluss, der nach seiner Heimatstadt benannt ist, hat ihm alles genommen. Wie alle hier hatte der Mann, der sich als Gul vorstellt, eigentlich sehnsüchtig auf den Monsun gewartet nach der langen Trockenphase. Die Landwirtschaft in der Region hängt vom Regen ab. Und als der endlich kam, wie in jedem Jahr, trat der Kabul-Fluss erst ganz langsam über die Ufer. Doch dann hörte es nicht mehr auf zu schütten. Mit der Zunahme der Pegelstände wuchs die Angst. Zentimeter um Zentimeter stieg das Wasser, bis die Natur schließlich ihr zerstörerisches Werk entfaltete.

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Bei der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer verloren nach Schätzung der Vereinten Nationen zehn Millionen Menschen in Pakistan ihr Zuhause.

(Foto: AFP)

Gul steht vor dem, was einst ein kleiner Lebensmittelladen ohne Fenster war. Es riecht modrig, die Fassade ist halb eingestürzt. "Hier gab es einmal ein normales Leben", sagt der 35-Jährige. "Häuser, Brunnen, aus denen sauberes Wasser kam, soziale Aktivitäten." Gul macht eine Pause. Er sagt jetzt ein bisschen aufgeregter als zuvor: "Nun ist hier nichts mehr, gar nichts." Seine Wohnung ist ein Trümmerhaufen, seine Perspektive ist ungewiss.

Auf der Zufahrtsstraße nach Nowshera im Nordwesten Pakistans: 6000 Häuser standen einst in dieser Siedlung. Einfache, kleine Bauten, aber immerhin aus Ziegeln gemauert. Das ist in diesem Teil der Welt keine Selbstverständlichkeit, vor allem nicht unter den Menschen, die ganz unten auf der sozialen Leiter stehen: Kriegsflüchtlinge wie Gul, der vor 25 Jahren aus Kabul in Afghanistan nach Pakistan kam und mit einer kurzen Ausnahme die ganze Zeit geblieben ist - so wie Millionen Landsleute. Er ist in Kabul zur Welt gekommen, nun hat ihn der Kabul-Fluss entwurzelt.

Als Gul hier hinkam, gab es nur Zelte, dann Lehmhütten, dann entstanden die bescheidenen Eigenheime zwischen Bahngleisen und Fluss. Die Menschen verdienten sich als Tagelöhner, brachten es zu bescheidenen Jobs mit geregeltem Einkommen. Gul hat sich mit einem kleinen Bekleidungsgeschäft selbständig gemacht. Sogar Strom hat ihnen die pakistanische Regierung irgendwann einmal gelegt, auch das ist hier nicht selbstverständlich. Heute ist Guls ehemalige Nachbarschaft kein Gebiet zum Leben mehr, sondern eine Ruinenlandschaft. Gerade einmal 600 Häuser stehen hier noch. Dazwischen: Schutt, zerbrochene Ziegel und Müll. Auch die Moschee hat Schaden genommen. Wenn nicht ein paar alte Männer, Kinder und Männer wie Gul geblieben wären, wäre es eine Geisterstadt.

Ein Jahr nach der schlimmsten Flutkatastrophe, die Pakistan je heimgesucht hat, steht Gul stellvertretend für viele der fast 20 Millionen Betroffenen, die sich vor allem selbst helfen mussten: "Wir haben keine einzige Rupie bekommen", sagt der Mann, der für ein Studium der Islamwissenschaft nach Kabul zurückgekehrt ist, ansonsten aber seit seiner Flucht immer in Pakistan gelebt hat. "Egal, was es an Hilfe gegeben hat, bei uns ist nichts angekommen", erzählt er. Mehr als 1,5 Millionen Gebäude wurden damals zerstört.

Eine Reise durch Gebiete wie Nowshera und Gespräche mit Menschen aus dem Swat-Tal zeigen: Längst ist noch nicht alles wieder aufgebaut. Die Regierung hat mit Hilfe der Armee versucht, wenigstens die Infrastruktur wieder notdürftig instand zu setzen, Hilfsorganisationen haben ihr Möglichstes getan, aber dennoch leben diejenigen, die schon vor der Flut nicht viel hatten, jetzt in erdrückender Armut.

Wenig Hilfe aus dem Ausland

Pakistan erfuhr nach Beginn er Katastrophe nur schleppend Hilfe aus dem Ausland. Zu schlecht ist das Image des muslimischen Landes, zu wenig Vertrauen gibt es in die als korrupt geltenden Politiker. Potentielle Spender hatten die Sorge, ihr Geld werde versickern oder bei den Taliban oder islamistischen Gruppen landen, die sich auch als Nothelfer betätigten.

Die Frage, ob die Extremisten von der Flut profitiert haben, ist müßig. Dem Staat Pakistan stand auch vor dieser Katastrophe das Wasser schon buchstäblich bis zum Hals. Ausgezehrt vom Anti-Terror-Kampf und einer darbenden Wirtschaft trafen die Wassermassen ein Land, das seit Jahren einen Niedergang erlebt, in dem es Denkverbote über das Verhältnis von Religion und Staat gibt, in dem die Extremisten zwar noch nicht Hand an die Atomwaffen gelegt, aber mühelos den öffentlichen Diskurs bestimmen und es geschafft haben, dass auch gebildete Menschen Mördern zujubeln, die angebliche Gotteslästerer umbringen.

Trotz der zahlreichen Probleme gibt es in Pakistan auch Opfer der Flutkatastrophe, die mit Optimismus in die Zukunft blicken. "Es geht uns jetzt wieder besser", sagt etwa Saleem Khan aus dem Swat-Tal, der sich als Maurer verdingt. Sein Haus musste er allerdings selbst wieder errichten. Stein für Stein, nachdem das Wasser zurückgegangen war. "Der Regierung haben wir nichts zu verdanken, sondern ausschließlich unseren eigenen Bemühungen", erzählt er weiter. Kahn hat einen Kredit aufgenommen, um weitermachen zu können. Von seiner politischen Führung hatte er erwartet, dass sie eines Tages zumindest einmal jemanden vorbei schicken würden. Heute erwartet er gar nichts mehr. "Sie sind nutzlos", sagt Khan. "Von ihnen kommt nichts Gutes."

Gul, der afghanische Flüchtling, erzählt sogar, wie Männer vorbeischauen, die sich als Regierungsvertreter ausgeben und eine Gebühr fordern, damit die wenigen verbliebenen Menschen des einstigen Flüchtlingsdorfes wieder Strom bekommen. Die meisten Nachbarn haben ihre Habseligkeiten auf Eselskarren und Anhänger gepackt, sind in die Provinzhauptstadt Peschawar oder zurück nach Afghanistan gezogen. Aber Gul weiß nicht, wohin er gehen soll mit seiner Frau und seinen fünf Kindern. Nach Kabul, in seine Geburtsstadt, will er nicht. Da ist es ihm nach wie vor zu unsicher. Hier bleiben will er aber auch nicht, er fühlt sich unerwünscht.

Schon blicken die Menschen in Nowshera auf den bevorstehenden Monsun - voller Angst. "Wir können nur hoffen, dass wir in diesem Jahr verschont bleiben", sagt Khayam Ali, der seinen kleinen Gemüse- und Obstladen in Nowshera wieder aufgebaut hat, nachdem die Flut seine Mangos, Melonen und alle anderen Waren vergangenes Jahr weggerissen hatte. "Es sind nicht nur die Folgen der Katastrophe, die mich wütend machen, es ist die gesamte Situation in Pakistan", sagt er. Es gebe häufig keinen Strom, kein Benzin und vor allem: keine Sicherheit. Die Situation gleiche tagtäglich einem Kampf. "Aber was sollen wir machen", sagt er. "Das ist unser Leben."

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