Ein Jahr nach dem Minenunglück in Chile:Gefangen in der Grube

Wiedergeboren, um am Leben zu verzweifeln: Man feierte sie als Helden, bejubelte ihre Rettung und schmückte sich mit ihnen - heute haben die 33 Kumpel der chilenischen Mine San José mit neuen Problemen zu kämpfen.

Peter Burghardt , Copiapó

Die Wiedergeburt des Carlos Mamani ereignete sich am 13. Oktober 2010 um kurz nach drei. Die Nacht spannte sich klar und kalt über die Mine San José in Chiles Atacama-Wüste. Scheinwerfer beleuchteten das Bohrloch, aus dem 33 verschüttete Bergmänner ans Licht kamen. Carlos Mamani war die Nummer 4. Präsident Sebastián Piñera fiel ihm um den Hals, man jubelte und sang. 1,3 Milliarden Fernsehzuschauer waren dabei, mehr als bei der Mondlandung. Der Bolivianer Mamani atmete die erste frische Luft seit 69 Tagen.

Jahresrueckblick August 2010: Verschuettete chilenische Bergleute

69 Tage waren 33 Minenarbeiter in der Tiefe gefangen - zurück an der Oberfläche warteten neue Herausforderungen auf die traumatisierten Kumpel.

(Foto: dapd)

Und heute? Jetzt sitzt Carlos Mamani, 25, wie gefangen in seiner Wohnung in den Hügeln der ärmlichen Provinzhauptstadt Copiapó. "Ich warte", murmelt er. Er wartet auf Arbeit. Auf Geld. Und darauf, dass die Gespenster aus seinem Kopf verschwinden.

"Wer nichts tut, der bleibt hängen"

Mamanis Kollege Omar Reygadas war die Nummer 17. Als ihn die Rettungskapsel Fénix 2 an diesem Tag aus 700 Metern Tiefe zurück ins Leben trug, stand die Sonne schon hoch. Auch ihn empfingen Staatschef, Familie, Hymne, Kameras. Reygadas, 56, sank auf die Knie und dankte dem Himmel.

Nun steht er an einem schönen Nachmittag in einem sandigen Hinterhof von Copiapó und inspiziert Obstbäume. Gerade hat Reygadas in Kanada vom Wunder von San José berichtet, solche Jobs halten ihn bei Laune. "Ich bin beschäftigt", sagt er. "Wer nichts tut, der bleibt hängen."

Vor einem Jahr steckten sie alle in einer Höhle fest, 33 Mann. Carlos Mamani aus La Paz ist einer der Jüngsten der Gruppe und der einzige Ausländer. Es war sein zweiter Tag in der berüchtigten Mine, als am 5. August 2010 zwei Stollen einstürzten und den Rückweg abschnitten. Mamani bekam Todesangst. Würden sie verhungern, verdursten, ersticken? War dies ihr Grab? Omar Reygadas dagegen blieb ruhig und vertraute auf Gott, das Löffelchen für die Notrationen Thunfisch und die Bibel hat er aufgehoben. Er ist Profi, er kennt die Gruben seit vier Jahrzehnten.

Am 22. August stieß eine Sonde der Suchtrupps auf einen Schutzraum. "Es geht uns gut in unserem Refugium, die 33", kritzelte José Ojeda auf einen Zettel und ließ ihn hinaufziehen. Presidente Piñera verlas das Lebenszeichen aus dem Jenseits. Das Original liegt urheberrechtlich geschützt in einem Tresor, gerahmte Kopien hängen bei Mamani und seinen Kollegen an den Wänden.

Über ein Rohr wurden Lebensmittel nach unten geschickt, Zeitungen, Kleider, Rasierzeug. Oben versammelten sich Angehörige, Techniker, Politiker, Journalisten. Unten spielte jeder seine Rolle. Mario Sepúlveda, der Entertainer. Edison Peña, der Läufer und Sänger. Omar Reygadas, der Routinier. Carlos Mamani, der Bolivianer. "Big Brother" im Schattenreich.

Ein neuer Härtetest an der Oberfläche

Bis dahin unbekannte Tagelöhner wurden auf einmal zu Weltstars. Ein neuer Härtetest begann, als nach zehn Wochen eine Bohrmaschine einen Schacht ins Gestein gefräst hatte und die Mineros wie in einer Rakete in die Oberwelt schossen. Präsident Piñera lud in seinen Palast und zum Fußballmatch, Sender und Verlage kauften Exklusivgeschichten. Ferne Länder riefen.

Omar Reygadas unternahm seine erste Auslandsreise - nach Madrid. Vorträge und Preisverleihungen führten ihn in die USA, nach Kanada, Guatemala, Costa Rica, Griechenland, Zypern, England. Die Kumpel waren Gäste bei Manchester United, in Disneyland und Hollywood. CNN nannte sie "Heroes".

Wie ein abgestürzter Rockstar

Doch bald trennten sich ihre Wege. Die einen blieben prominent, die anderen verblassten. Mario Sepúlveda, der tanzende Super Mario, verlangt zum Beispiel 2500 Euro pro Auftritt und Interview. Edison Peña wurde an die Gruft seines Idols Elvis Presley in Memphis gerufen, sang bei David Letterman und quälte sich in fünf Stunden und 40 Minuten durch New Yorks Marathon. Jetzt liegt Peña in einer psychiatrischen Klinik in Santiago. Wie ein abgestürzter Rockstar. Chiles Elvis aus der Mine irrte durch Copiapó, betrunken und bedröhnt. "Der Ruhm und die Reisen haben ihn die Realität mit der Fiktion verwechseln lassen", sagt seine Frau.

Carlos Mamani ist deprimiert und arbeitslos. Er klagt über Albträume. "Ich krieg' das nicht aus dem Kopf", sagt er. Auch Omar Reygadas ringt mit Schlafstörungen: "Wir haben alle Probleme, das dauert." Die Helden von San José kämpfen mit dem Alltag wie Trinker mit der Abstinenz. Wen wundert das?

"Die haben ihre Identität verloren", sagt Alberto Iturra im Therapiesessel seiner Praxis in Copiapó. Der Psychologe war ein Krisenmanager im Camp Esperanza, zu deutsch Hoffnung. Iturra filterte Briefe und Anrufe und betreute die Kumpel über Telefon und Laptop. Manche der Geretteten danken es ihm. Manche schimpfen, er habe sie krank gemacht. Doch krank seien viele schon vorher gewesen, sagt Iturra: "Wir hatten einen Schizophrenen, zwei Bipolare, zwei manisch Depressive, zwei Drogenabhängige, vier Alkoholiker, einen mit Staublunge, einen Diabetiker".

Der Diabetiker ist Reygadas, dem wegen modrigem Trinkwasser auch Zähne ausfielen. Das lässt sich regeln, komplizierter sind andere Nachwehen der Rettung. Was bekam der traumatisierte Einzelgänger Mamani im Gesundheitsamt verschrieben? "Pillen, Pillen, Pillen", antwortet er. Er fühlt sich als einsamer Außenseiter. "Ich hatte immer ein trauriges Leben, ich war nie glücklich wie andere." Seine Eltern sind tot, die zehn Geschwister leben in Bolivien.

Sein Präsident Evo Morales bot ihm eine Stelle in einer Mine und ein Haus, Mamani blieb in Chile. "Ich will hier wieder arbeiten", sagt er, aber er findet nichts. Eine Mine? "Nur überirdisch." Als sie bei einer Einladung nach Griechenland in eine Mine fuhren, bekam er Panik. Für Reden wird er nicht gebucht. Jedenfalls: "Ich brauche Arbeit." Und Geld.

"Es war kein Unfall, es war Vorsehung"

Allen 33 Kumpeln spendierte der chilenische Krösus Leonardo Farkas je 10.000 Dollar, bei Carlos Mamani ging das für Auto und Wohnung drauf. Ein Hollywood-Film soll für Nachschub sorgen, ein Buch und eine millionenschwere Sammelklage auf Schadensersatz. Doch die Klage hat die Kläger unbeliebt gemacht, sie gelten manchen Chilenen ohnehin als geldgierig. Und Bücher und Filme gibt es schon ein paar. Ein US-Autor schwadroniert von kannibalischen Fantasien, Homosexualität, Suizidgedanken und Drogen im Verlies von San José. Omar Reygadas war entsetzt.

Reygadas erzählt seine Wahrheit gegen Honorar vor Schülern, Studenten, Unternehmern. "Es war kein Unfall, es war Vorsehung", meint er. Und weil "Minenüberlebender" allein noch kein Beruf ist, vermietet Reygadas auch sperrholzverkleidete Zimmer, will Ziegen züchten und Käse verkaufen. So fängt jeder wieder von vorne an.

"Andere haben ständig die Mine im Kopf, da wirst du verrückt"

Carlos Barrios fährt Taxi, Yonni Barrios bedient in einem Laden, Pablo Rojas sucht Kupfer. Und Osmán Araya hat sich einen Lastwagen gekauft für Obst, Gemüse und Maschinen. "Der Lkw ist meine Therapie", sagt er und springt auf die Ladefläche. "Ich habe keine Albträume, nix. Ich bin völlig entspannt. Andere haben ständig die Mine im Kopf, da wirst du verrückt. Ich halte mich da fern. Ich weiche den Kameras aus. Ich denke an die Zukunft."

Araya mag die zehn Wochen im Keller von San José nicht so wichtig nehmen, obwohl eine Ehrenplakette in seinem Regal liegt, die hat er von Simon Peres erhalten. Daneben steht eine Miniatur der Fénix 2.

Der Ruhm ist flüchtig. Die Mine San José der Firma San Esteban Primera wurde leer geräumt, nichts erinnert in der hügeligen Mondlandschaft aus Stein und Sand mehr an das, was war. Auf der Öffnung, die auch Carlos Mamani und Omar Reygadas entließ, liegt heute: Beton.

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