Süddeutsche Zeitung

Eichen-Prozessionsspinner:Des Menschen Furcht vor Kleinstlebewesen

Reizungen, Pusteln, Klebeband: Der Eichen-Prozessionsspinner nervt Europa. Wegen der Raupe mit den gefährlichen Brennhaaren mussten bereits Campingplätze, Schwimmbäder und Schulen geschlossen werden.

Von Martin Zips

Der Eichen-Prozessionsspinner muss ein schreckliches Tier sein. Als Raupe wirft er, ab Juni in großen Gruppen über alte Eichenhölzer prozessierend, gerne seine Haare in den Wind. Brennhaare, die mit Widerhaken ausgestattet sind und deren Gift selbst dann noch wirkt, wenn aus der Raupe längst ein Nachtfalter geworden ist.

Wie winzige Nesseln fliegen die Härchen durch die Luft und landen auf der Haut unschuldiger Menschen. Die Folge sind Reizungen, Pusteln, ja sogar ein allergischer Schock soll hie und da schon diagnostiziert worden sein. Da sich der Eichen-Prozessionsspinner - nicht nur nach Einschätzung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald - infolge des Klimawandels immer weiter ausbreitet, mussten seinetwegen bereits Campingplätze, Schwimmbäder und Schulen geschlossen sowie der Marathonlauf der Stadt Wolfsburg abgesagt werden.

Im Uniklinikum Münster wurden zuletzt in nur einer Woche gleich sechs Menschen Brennhaare aus ihren Augen gezogen. Nach Angaben der Oberärztin ein neues Phänomen (obgleich, wie die Ruhr Nachrichten berichten, die Archivare der evangelischen Kirchengemeinde in Dortmund-Brechten herausgefunden haben wollen, dass es Eichen-Pozessionsspinner bei ihnen bereits im Jahr 1827 gab). Mediziner raten: Wer unter unerklärlichen Augenbeschwerden leide, der solle sofort zum Arzt gehen.

Derweil rücken erfahrene Schädlingsbekämpfer dem Insekt mit Spezialsaugern, Chemikalien und Flammenwerfern zu Leibe. Wer freilich, wie Kerstin K. aus Ascheberg, plötzlich für die Entfernung eines Nestes an einer Gemeinde-Eiche zur Kasse gebeten wird, reagiert zu Recht empört: "Ich glaube, ich spinne!" Auf Pheromonfallen fallen übrigens nur männliche Prozessionsspinner rein, nicht die weiblichen. Und in den Niederlanden testete man zuletzt den Bau ganzer Vogelhaus-Siedlungen für Kohlmeisen, da diese gerne Raupen fressen - zumindest solange sie noch nicht völlig mit Brennhaaren überwuchert sind. Auch Schlupfwespen, Wanzen und Kuckucks gelten als natürliche Feinde.

Das Umweltministerium Nordrhein-Westfalen rief nun alle Bürgerinnen und Bürger zum häufigeren Duschen, Kleiderwechsel sowie der eigenverantwortlichen Entfernung von Brennhaaren mittels handelsüblicher Klebebänder auf. Apotheker halten üppige Mengen Antihistaminika sowie Cortison-Cremes bereit. Allein während des Nürnberger Musikfestivals "Rock im Park" Anfang Juni soll es zu 132 Einsätzen nur wegen des Eichen-Prozessionsspinners gekommen sein.

Der Mensch und seine - manchmal mehr, manchmal weniger begründete - Furcht vor Kleinstlebewesen, das ist eine lange Geschichte. Im Altertum schon warnte Marcus Terentius Varro vor dem Einatmen der Luft in den Sümpfen, da diese seiner Meinung nach mit winzigen Tieren bevölkert sei. Im frühen 18. Jahrhundert dann behauptete der französische Gelehrte Nicolas Andry de Boisregard, in jedem menschlichen Körperteil stecke ein fieser Wurm, welcher Krankheiten auslöse. Auch heute noch reagiert der Mensch auffallend hektisch, sobald man ihn kitzelt. Evolutionsbiologisch hat das nur Vorteile: Man weiß ja nie, welche Mikrobe jetzt schon wieder auf einem landet.

Bei der zuständigen britischen Forstbehörde jedenfalls legt man viel Wert darauf, dass der Eichen-Prozessionsspinner nicht einheimisch sei, sondern 2005 vom europäischen Festland eingeschleppt wurde. Mittlerweile habe er sich auf alle Londoner Stadtteile ausgebreitet, was die Liebe der Insulaner zum Festland nicht unbedingt vergrößert. Andererseits: Es gibt ja noch die Kohlmeise.

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SZ vom 10.07.2019/ick
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