Ehrenmord-Prozess in Baden-Baden:Eine Anklage aus lauter Narben

Von 26 Messerstichen gezeichnet trifft Aylin Korkmaz im Gerichtssaal auf ihren Ex-Mann, der aus verletzter Ehre heraus versucht haben soll, sie zu töten.

Bernd Dörries

Aylin Korkmaz sitzt in ihrem Wohnzimmer und sagt, sie fühle für ihren Ex-Mann genauso viel wie für einen Tisch oder einen Fernseher. Sie schaut auf den Tisch und auf den Fernseher. Beide sind grau-anthrazit, wie vieles andere auch in diesem sehr aufgeräumten Wohnzimmer.

Aylin Korkmaz, dpa

Aylin Korkmaz überlebte einen Mordversuch und ist entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

(Foto: Foto: dpa)

Sie sitzt auf dem Ledersofa, mit einem weißem Rock und einem lilafarbenen Trägerhemd, beides ist recht kurz, weil es draußen heiß ist und wohl auch, weil die 36-Jährige zeigen will, dass sie so leicht nicht unterzukriegen ist. Man sieht die Narben auf ihren Armen, den Verband am Kehlkopf und die vielen Schnitte im Gesicht. Wären sie nur ein ganz klein wenig tiefer gegangen, dann könnte man mit ihr nicht mehr über ihr Leben sprechen, dann wäre Aylin Korkmaz tot.

Man kann in das Gesicht von Aylin Korkmaz schauen oder dem Staatsanwalt zuhören. Beides ist eine Anklage. Die eine besteht aus lauter Narben und aus einem Ohr, das abgetrennt wurde. Die andere ist 17 Seiten lang.

Es ist der Donnerstagmorgen im Landgericht von Baden-Baden, der zweite Tag im Verfahren gegen Mehmet K. wegen versuchten Mordes an seiner Frau Aylin, die heute ihre Aussage macht. Sie schaut kein einziges Mal nach links, wo ihr früherer Mann sitzt. Er schaut kein einziges Mal nach rechts, blättert in den Akten.

Ein Verbrechen im Namen der Ehre kennt das Strafgesetzbuch nicht. Nur niedrige Beweggründe. Wahrscheinlich auch, weil eine Gesellschaft wie diese mit so etwas nicht gerechnet hat. "Ich bin nicht die Erste, und ich werde nicht die Letzte sein", sagt Aylin Korkmaz. Vor ihr war Hatun Sürücü in Berlin. Nach ihr die Afghanin Morsal O. in Hamburg. Beide starben im Namen einer Ehre. Das soll auch der Plan von Mehmet K. gewesen sein, sagt die Staatsanwaltschaft.

Am 21. November vergangenen Jahres soll er in die Autobahnraststätte bei Baden-Baden gefahren sein, in der seine Frau an der Kasse arbeitete, soll gewartet haben, bis sie in einen Nebenraum ging, und ihr gefolgt sein. Er hatte zwei Messer in der Hand. Zeugen in der Tankstelle hörten Schreie, die sie als "bestialisch" beschrieben haben.

Mehmet K. soll seine Frau mit 26 Stichen verletzt haben, bis zu zwölf Zentimeter tief: die Ohrmuschel abgetrennt, in beide Brüste gestochen, die Milz zerrissen, den Kehlkopf aufgeschlitzt, das Gesicht zerfetzt. Zwei Liter Blut hat Aylin Korkmaz allein am Tatort verloren, acht Stunden wurde sie operiert, mit mehr als 250 Stichen genäht und gerettet.

Als die Polizei kam, soll der Ex-Mann die Messer aus den Händen gelegt und gesagt haben: "Jetzt geht es mir gut, jetzt kann ich das erste Mal wieder schlafen. Ich habe fünf Monate nicht mehr geschlafen." Als ein Polizist ihm mitteilte, dass Aylin Korkmaz noch am Leben sei, habe er laut "Nein" geschrien und seinen Kopf gegen die Wand geschlagen.

Eine Anklage aus lauter Narben

Als ihn der Richter im Prozess fragt, wie er sich die Tat erklären könne, sagt Mehmet K.: "Ich bin auch gegen Gewalt. Ich bedauere den Vorfall. Ich frage mich auch, wie ich das gemacht habe." Er sagt, er könne sich an das Geschehen nicht erinnern. Er bestreitet die Tat aber auch nicht.

Mehmet K. ist 49 Jahre alt, trägt einen schwarzen Anzug mit rosa Krawatte, ein lilafarbenes Hemd, und er hat recht volles graues Haar. Als Beruf gibt er Kassierer an, sein Deutsch ist auch nach fast 30 Jahren in diesem Land schlecht, ein Dolmetscher übersetzt für ihn.

Es ist nicht immer einfach, den Antworten von Mehmet K. zu folgen. Als ihn der Richter nach der Tat fragt, antwortet er: "Ich sage es auch hier vor der Presse. Ich habe die Kinder großgezogen. Ich habe sie gebadet." Man erfährt wenig Details aus dem Leben von Mehmet K., aber eine Haltung: Sie hat nicht alles gemacht, was ich wollte. Sie ist schuld. "Das, was sie mit mir gemacht hat - in der Türkei hätte man dafür ganz andere Dinge mit ihr angestellt", sagt er einmal.

Für die Opfer von besonders grausamen Gewaltverbrechen ist es oft bitter, dass sich die Öffentlichkeit mehr für den Täter interessiert als für das Opfer. Bei Aylin Korkmaz ist das anders. Sie hat überlebt, und sie erzählt. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hat mit ihr eine Kampagne gestartet, sie spricht an Volkshochschulen. Sie will anderen Frauen Mut machen, zeigen, dass es einen Ausweg gibt. "Die Frauen sollen denken, wenn Aylin das schafft, dann schaffe ich das auch."

Aylin Korkmaz ist das erste von vier Kindern, geboren 1972 in Adana, einer Millionenstadt am Meer, der fünftgrößten der Türkei. Als sie sechs Jahre alt war, starb der Vater. "Das war schlimm für mich. Ich habe mir geschworen, dass meine Kinder nicht ohne Vater aufwachsen sollen." Deshalb sei sie später immer wieder zurück zu ihrem Mann - wegen der Kinder, sie sollten es besser haben.

Mit 18 Jahren machte sie Abitur. Ihre Familie hatte eine moderne Einstellung, legte Wert auf Bildung. Aylin Korkmaz begann das Studium an einer Wirtschaftsschule und hörte bald wieder auf. Jura, das wäre etwas für sie. Es wurden Pläne geschmiedet, nach England wollte sie gerne zum Studieren. Die Mutter fand das ein bisschen viel, ihre Tochter sei noch zu jung. Aus dem Traum von England wurde Baden-Baden.

"Ich habe gedacht, das ist mein Schicksal"

Ein Verwandter stellte ihr Mehmet K. vor. Sie sahen sich ein paar Mal, dann wurden sie verlobt, die Mutter und die Verwandten wollten es so. "Ich habe gedacht, das ist mein Schicksal, Allah hat das gewollt." Sie wurde verheiratet und zog zu ihrem Mann nach Baden-Baden.

Anfangs sei es gar nicht so schlimm gewesen, sagt Aylin Korkmaz, er habe ihr Freiheiten gelassen. Aber was sollte sie denn mit der Freiheit anfangen? "Ich war sehr einsam, mit einem fremden Mann, mit einer fremden Sprache, in einem fremden Land." Sie war es dann, die Kinder wollte, mit 24 hatte sie drei. Eigentlich wollte sie gerne sechs, ihr Mann aber am liebsten keine.

Die Streitereien wurden häufiger. Manchmal ging es um Kleinigkeiten, manchmal um Politik: Mehmet K. ist Türke kurdischer Volkszugehörigkeit, seine Frau Türkin aus einer Großstadt. Er konnte kaum lesen und schreiben, sie hatte Abitur. "Du kannst nicht lesen. Dein Verstand arbeitet nicht", habe ihn seine Frau einmal geschimpft, sagt Mehmet K. vor Gericht. Es blieb wohl nicht bei Worten.

Immer, nachdem er sie geschlagen habe, sagt Aylin Korkmaz, habe ihr Mann angefangen zu weinen, habe behauptet, er bereue es, machte ihr Geschenke. "Ich schlage dich, weil ich dich liebe", soll er gesagt haben. Vor Gericht bestreitet Mehmet K. jegliche Gewalt in der Ehe. "Nein, nein", sagt er und schnalzt mit der Zunge. Dann geht es wieder darum, dass er die Kinder gebadet habe.

Eine Anklage aus lauter Narben

1998 sah es einmal so aus, als käme Aylin Korkmaz los von ihrem Mann. Sie stand gerade in der Küche, das jüngste Kind war noch ganz klein, umklammerte ihr Bein. Mehmet soll in die Küche gekommen sein, außer sich vor Wut wegen irgendeiner Kleinigkeit, mit einem Beil in der Hand.

Aylin Korkmaz hielt den Sohn hoch, schützend vor ihr Gesicht. "Bis heute schäme ich mich dafür, aber was hätte ich machen sollen." Danach nahm sie ihre Kinder, flog zur ihrer Familie in die Türkei. Sie fand Arbeit, ein Kind wurde eingeschult. Acht Monate blieb sie in der Türkei. Ihr Mann meldete sich dauernd, sagte, wie leid ihm alles tue, dass er nun ein anderer Mensch sei, auch seine Familie machte Druck. "Er wusste, dass ich keinesfalls wollte, dass die Kinder so wie ich ohne Vater aufwachsen. Das hat er ausgenutzt."

Aylin Korkmaz kehrte zurück nach Deutschland und auch zu ihrem Mann und musste feststellen, dass sich nichts geändert hatte. Der Mann erlaubte ihr zwar zu arbeiten, aber nur an der Tankstelle, bei der er auch angestellt ist. "Ich habe nie gedacht: Es gibt auch andere Männer im Leben", sagt sie, sie habe sich schwach gefühlt damals. Anzeigen, die sie bei der Polizei aufgegeben hatte, nahm sie kurze Zeit später wieder zurück. "Ich habe gedacht, ich mache alles kaputt, eine ganze Familie. Dabei hat er alles kaputt gemacht."

Im Jahr 2003 verprügelte er sie in einem Lokal, vor allen Leuten. Aylin Korkmaz ließ sich scheiden. Es war die Erkenntnis, dass die Kinder zwar einen Vater brauchen, dass ein prügelnder aber auch nichts hilft. Los war sie ihn deshalb noch lange nicht. "Er hat mich einfach isoliert", sagt sie. Mehmet K. soll damit begonnen haben, die Leute zu terrorisieren, die mit Aylin Korkmaz zu tun hatten. Einen anderen Vater, der ihren Sohn zum Fußball mitnahm, soll Mehmet K. gefragt haben, was er mit seiner Frau zu tun habe. Er schlug ihn. Es gab nur wenige, die mit Aylin Korkmaz zu tun haben wollten, weil das Ärger bedeutete.

An einem Tag im Juni 2007 nahm ihr Ex-Mann sämtliche Wertsachen aus der Wohnung und verkaufte ihr Auto für einen lächerlichen Preis, so erzählt es Aylin Korkmaz. Das Auto brauchte sie, um zur Arbeit zu kommen. "Er wollte, dass mir das Geld ausgeht, dass ich aufgebe." Sie gab aber nicht auf, lieh sich Geld für ein neues Auto: Wenig später soll der Ex-Mann gedroht haben, er werde die Kinder ans Jugendamt geben, nur damit sie nicht bei ihr blieben. Und dann werde er sie töten. "Ich warte auf den richtigen Zeitpunkt, ich werde dir den Kopf abschneiden", soll er gesagt haben. Aylin rief die Polizei und beantragte Schutz, ihr Ex-Mann durfte ihr nicht näher als 100 Meter kommen. Es war ihm egal.

Aylin Korkmaz sitzt auf dem Sofa und sagt, es sei doch ein Zeichen gewesen, dass sie gerade in der Raststätte angegriffen worden sei. Vor allen Leuten. Vor vielen Zeugen. "Damit wollte er mir sagen: Egal, was du in diesem Land für Rechte hast, ich tue, was ich will." Das Telefon klingelt jetzt wieder, und sie springt sofort auf. Wenn sie einmal nicht rangeht, rufen ihre Bekannten sofort die Polizei, das Revier ist im Erdgeschoss.

Ihre 15-jährige Tochter ist vor ein paar Tagen abends auf die Straße gegangen und hat einen Sieg der Türken bei der Fußball-EM gefeiert. Ohne dass ein Mann um Erlaubnis gefragt werden musste. "Das ist unsere neue Freiheit", sagt Aylin Korkmaz. "Auch wenn ich dafür mit meinem Gesicht bezahlen musste." Es hört sich nicht nach einem glücklichen Ende an, aber doch nach einem, mit dem man weiterleben kann. Die Ärzte sagen, die Wunden von Aylin Korkmaz würden außergewöhnlich schnell verheilen.

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