Ehemalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika:Schrei aus der Wüste

Vor knapp 100 Jahren beging das deutsche Kaiserreich den Völkermord an den Herero. Ihre Nachfahren im heutigen Namibia kämpfen erbitterter denn je um Wiedergutmachung.

Von Tobias Zick

Draußen, jenseits des Zauns, erheben sich die Geister aus dem Wüstenstaub. Männer, Frauen und Kinder starren dem Feind entgegen, ein verlorener Haufen, geschart um das Wasserloch. Soldaten in Khaki bellen Befehle. Zwei von ihnen bauen sich vor den verängstigten Menschen auf, Gewehre im Anschlag. Der Anführer der Truppe trägt ein schwarz-rot-goldenes Band am Hut. Den fülligen Bauch herausgestreckt, schreitet der Kommandeur zum Wasserloch, schraubt eine Flasche auf, lässt den Inhalt in die Wasserstelle rinnen. Das Wasser, das die Geflohenen in der Wüste hätte retten können, vergiftet: Wenig später sinken die ersten zu Boden. Körper zucken in der Sonne. Ein Mann protestiert, rudert mit den Armen. Die Soldaten zerren ihn unter einen Baum. Am Ast hängt ein Strick.

Das Deutsche gehört zur DNA der jungen Nation

Ein paar Kilometer weiter rumpelt Wilhelm Diekmann, Inhaber der "Jagd- und Gästefarm Hamakari", mit seinem Geländewagen durch den Sand, immer entlang des Zaunes, der seinen Besitz vom Land der Herero trennt. Die Herero haben ihn auch dieses Jahr eingeladen, ihrem Historienschauspiel auf der anderen Seite beizuwohnen. Jahr für Jahr rufen sie mit der Aufführung ihr Schicksal in Erinnerung, lassen in dem Laienspiel ihr Trauma aufleben. Mit allen grausigen Einzelheiten. Die Nachkommen sollen wissen, wem dieses Volk sein jämmerliches Dasein zu verdanken hat: den deutschen Kolonialtruppen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Gebiet im Südwesten Afrikas unterwarfen. Den Mördern von 1904, die die Herero abschlachteten, die Krieger mit deren Frauen und Kindern in der Omaheke-Wüste verdursten ließen.

"Das kenne ich, das muss ich mir nicht antun", sagt Diekmann, der deutsche Farmer, der Bart endet knapp unter den Augen, Sonnenflecken sprenkeln sein Gesicht. "Wobei, ein Interesse an guter Nachbarschaft habe ich. Wir haben zwanzig Kilometer gemeinsame Grenze. Und die Herero sind weit in der Überzahl."

Namibia, August 2016. Ein gutes Jahrhundert ist es her, dass Kaiser Wilhelm II. diesen Teil des südwestlichen Afrikas als Kolonie ausbeutete, einen Aufstand der Einheimischen niederschlagen ließ. Dennoch gehört das Deutsche im heutigen Namibia zur DNA der jungen Nation. In Cafés stehen Bienenstich und Schwarzwälder Kirschtorte auf der Karte; wer möchte, kann sein Windhoek Lager - das Bier ist nach dem Reinheitsgebot gebraut - unter einer schwarz-weiß-roten Reichsflagge aus der Wilhelm-Zwo-Zeit trinken; die Allgemeine Zeitung berichtet von der Arbeit der deutschen Kriegsgräberfürsorge.

Von den zwei Millionen Menschen, die das Land bevölkern, ist jeder Hundertste deutschstämmig. Die Deutschen sind eine Minderheit, einflussreich und wohlhabend: Viele "Südwester" besitzen bis heute riesige Rinder- und Wildfarmen. Land, auf dem früher die Rinder der Herero grasten.

Der Bundestag nennt den Massenmord an den Armeniern seit diesem Sommer Genozid. Jetzt muss Deutschland im eigenen Hinterhof der Geschichte kehren. Nach Ansicht der meisten deutschen und afrikanischen Historiker hat das Kaiserreich in Deutsch-Südwestafrika den ersten Völkermord der Neuzeit begangen, mit Konzentrationslagern - 35 Jahre vor dem Judenmord des NS-Regimes. Die "Schutztruppe", wie die Kolonialsoldaten hießen, trieb die Herero-Krieger nach deren Aufstand mitsamt Familien in die Wüste, ließ sie verdursten. Wie viele starben, ist umstritten. Historiker sprechen von Zehntausenden.

Namibia ringt mit seiner deutschen Vergangenheit

Namibias Ringen mit seiner deutschen Vergangenheit hat erst begonnen. Es dürfte noch schmerzhaft werden, für alle Beteiligten.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg blühten in Europa Rassentheorien auf, afrikanisches Leben betrachteten die Herrenmenschen als minderwertig. Dass die damalige Berliner Regierung es zumindest in Kauf nahm, die Herero auszurotten, bestreiten nur noch wenige Historiker, aber noch immer viele Deutsch-Namibier. Fakt ist, dass die Bundesregierung den Völkermord längst anerkannt hat. Fest steht aber auch, dass sie sich 110 Jahre nach dem Massensterben noch immer sträubt, die Herero für das Unrecht zu entschädigen.

Herero beschäftigt der Deutsche ungern auf seiner Farm - aus reiner "Vorsicht"

Nirgendwo bündeln sich diese Widersprüche der deutsch-afrikanischen Vergangenheit so eindrücklich wie am Weidezaun von Wilhelm Diekmanns Farm. Von der Anhöhe hinter der Absperrung herunter kann der Deutsch-Namibier weit in das Land jenseits des Zauns blicken. Diekmann sieht die Blechdächer der Herero-Siedlungen in der Sonne funkeln, "es werden immer mehr". Je schneller die ärmlichen Dörfer wachsen, desto öfter kommt es vor, dass Diekmanns Männer einen Wilderer stellen, der es auf ein Warzenschwein oder eine Oryx-Antilope abgesehen hatte. Es sind jene Wildtiere, die Diekmanns zahlende Gäste aus Europa abschießen - Jagdtourismus ist, neben der Rinderzucht, seine Haupteinnahmequelle. Die Zeiten seien schwieriger geworden, sagt er, in den letzten 20 Jahren musste er einige seiner schwarzen Angestellten entlassen. Aber denen, die noch übrig sind, zahle er mehr als den staatlichen Mindestlohn, das zu sagen, ist ihm wichtig. Jeder bekomme seine wöchentliche Ration Fleisch, "ich will ja von zufriedenen Menschen umgeben sein". Lieber als Herero stellt der Deutsche aber Menschen anderer Volksgruppen ein: "Reine Vorsichtsmaßnahme."

Die Deutschen sind eine Minderheit, einflussreich und wohlhabend

Der 59-Jährige ist namibischer Staatsbürger, er liebt das Land, die Weite, die Natur. Er liebt sein Farmhaus mit dem tropischen Garten und dem Swimmingpool - sein Idyll, in dem er seine vier Kinder großgezogen hat. Er liebt das "Waterberg-Glühen" nach einer klaren Winternacht, wenn die Morgensonne den roten Sandstein des Berges in Flammen setzt. Schon Diekmanns Ahnen schwärmten davon, als sie 1908 in Deutsch-Südwestafrika eintrafen: "Von Weitem wurden schon die Zinnen des gewaltigen Tafelbergmassivs sichtbar", schrieb Diekmanns Großvater in seinen Memoiren. "Seine steilen, roten Sandsteinmauern, ähnlich wie bei Helgoland, nur in viel größerem Ausmaß, leuchteten uns als Wahrzeichen dieser Gegend schon meilenweit freundlich entgegen."

Die Diekmanns hatten ein Sägewerk im Oldenburger Land, strampelten erfolglos an gegen die Wirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann tat sich am anderen Ende der Welt eine Perspektive auf: Die Zeitungen berichteten über den "großen Herero-Aufstand in Südwestafrika, der von 1904 bis 1906 dauerte", wie der alte Diekmann notierte, verbunden mit dem Hinweis, "wie notwendig deutsche Siedler dort unten gebraucht würden".

Im Oktober 1908 setzten Urgroßvater und Großvater per Reichspostdampfer von Bremerhaven nach Swakopmund über. Vier Wochen dauerte die Reise, dritte Klasse, 250,50 Mark pro Kopf. Bei den Soldaten der Schutztruppe fanden die Auswanderer eine "überaus herzliche Aufnahme", am Wegrand sahen sie Hunderte Zwangsarbeiter, gefangen genommene Herero. Schließlich kamen sie zu ihrer Farm namens Hamakari, für 6000 Mark hatten sie der Kolonialverwaltung das Land abgekauft. Was sie dort als Erstes sahen, war "altes Kriegsgerät, zerstörte Waffen, Tornister, Patronenhülsen, Wagenreste, Totenschädel, Pferde- und Viehgerippe".

Die Geister der Vergangenheit ließen die Diekmanns in Ruhe, sie schlugen sich nicht mit aufständischen Herero, sondern mit Termiten und Malaria herum. Doch jetzt, mehr als hundert Jahre später, werden die Deutschen in Namibia, wird Wilhelm Diekmann von der Vergangenheit eingeholt. Er könnte sie, wenn er denn wollte, auch sehen: Er müsste nur dem Laien-Kriegsspiel zusehen, die Vorführung endet gerade. In seiner roten Parade-Uniform tritt der "Paramount Chief" vor, der Anführer aller Herero-Clans und -Königshäuser. "Wir gedenken heute der epischen Schlachten", dröhnt es aus den Lautsprechern, "der Schlachten, die vor 112 Jahren hier gefochten wurden. Zur Verteidigung unseres Mutterlandes, gegen die ausländische Besatzung."

Vom Vorplatz des Amphitheaters herüber dringt das schrille Stakkato der Trillerpfeifen, die gebrüllten Befehle, die Rufe der Laienschauspieler. Im Stechschritt paradieren die Herero in nachgeschneiderten Khaki-Uniformen auf und ab: Sie spielen die Deutschen - bewaffnete Menschmaschinen, so halten die Herero die Soldaten des Kaisers bis heute in Erinnerung.

"Unsere Zeit ist gekommen", ruft der Häuptling. Deutschland müsse sich für den Genozid entschuldigen, Wiedergutmachung leisten, "für das Blut unserer Vorfahren". Dann droht er. Falls nicht, werde die Zeit für Gerechtigkeit sorgen. "Es ist eine Fackel, die wir an die nächste Generation weiterreichen können. Aber die nächste Generation wird nicht so verständnisvoll, geduldig und diplomatisch sein wie ich."

Der Paramount Chief heißt Vekuii Rukoro, entstammt einer adligen Herero-Familie; dass ihn nicht alle Herero als ihr Oberhaupt anerkennen, lässt ihn kalt. Rukoro hat eine Mission, er kämpft gegen die Deutschen, und er kämpft gegen die eigene namibische Regierung. Die, so Rukoro, halte das seit dem Genozid dezimierte Volk der Herero in seinem eigenen Land systematisch von der Macht fern. Nach seiner Rede steht der Herero-Führer neben der Bühne, deutet auf den Zaun, hinter dem Wilhelm Diekmanns Farm mit ihren 20 000 Hektar liegt, Jagdgrund für Touristen und Hobbyjäger aus Europa, aus den USA, aus Russland, den Emiraten. "Das ist Herero-Land", sagt er. "Land, das die Deutschen uns genommen haben." Der Häuptling wirkt verbittert: "Sie können von hier vier, fünf Stunden mit dem Auto fahren. Alles Privatland im Besitz Deutschstämmiger. Glauben Sie mir, das ist eine Zeitbombe."

Die Hereros fordern von Deutschland eine Entschädigung

Namibia sei ein friedliches Land, aber wenn Berlin die Herero nicht endlich entschädige, würden diese die Geduld verlieren: "Dann werden sie sagen, holen wir uns die Reparationen eben selbst." Der Herero bringt das historische Unrecht auf eine knappe Formel: "Die Deutschen haben uns unser Land und unsere Rinder genommen. Das Land und die Rinder befinden sich aber nicht in Deutschland. Sondern hier, hinter diesen Zäunen."

Diekmann und Rukoro kennen sich gut, früher hat der Häuptling mit seiner Frau auf der deutschen Farm übernachtet, wenn er in der Gegend war. "Aber seit einiger Zeit lässt er sich hier nicht mehr blicken", sagt Diekmann und lenkt seinen Geländewagen weg vom Zaun, steuert ihn hinauf auf eine Anhöhe, hält vor einem Gräberfeld. Auf den Grabsteinen stehen elf deutsche Namen, darunter der von Feldwebel Robert Jendis und der von Unteroffizier Max Matt, auch der des Reiters Karl Schlegel. Alle drei gefallen am 11. August 1904 in Otjiwarongo Ost, der Jüngste der Soldaten war 19. Sie starben in einem Hinterhalt von Herero-Kriegern, zwischen Termitenhügeln und Dornenbusch. Für die Kolonialabenteuer des Kaisers, der getrieben war von der Sehnsucht, endlich auch "Weltmacht" zu sein, den Deutschen einen "Platz an der Sonne" zu sichern.

Seit April 1884 stand das Gebiet im Südwesten, gelegen zwischen dem portugiesischen Angola und der britischen Kapkolonie, offiziell unter dem "Schutz des Deutschen Reichs". Die Deutschen kauften den Anführern der Herero und der Nama immer größere Ländereien ab: Die Verträge waren mal mehr, mal weniger ehrlich, aber es ging immer um das Land rund um die wenigen Wasserstellen, die den dürren Boden erst nutzbar machten als Farmland oder für Plantagen.

Die Herero und ihre Herden wurden auf immer engerem Raum zusammengedrängt, konnten kaum noch überleben: Ihre Siedlungen wurden Brutstätten für die Rinderpest, die 1896 einen Großteil ihrer Herden dahinraffte. Die Herero verarmten, die Männer mussten sich als Arbeiter auf den Farmen der weißen Herren verdingen, erniedrigt, fast versklavt. Manchmal nahmen die deutschen Herren ihnen mit Gewalt auch noch ihre Frauen.

Die Siedler wiegten sich in ihrem Kolonialparadies in Sicherheit

Die deutschen Siedler, die das Leid der Afrikaner meist ungerührt ließ, wiegten sich in ihrem Kolonialparadies - und unter dem Schutz des kaiserlichen Soldaten - in Sicherheit. Was in der Nacht zum 12. Januar 1904 losbrach, traf sie unvorbereitet. Die Herero rissen die Telegrafenmasten um, zerstörten die Gleise der neu gebauten Eisenbahn, steckten die Büros der Kolonialverwaltung in Brand, stürmten die deutschen Farmen. 123 deutsche Zivilisten starben den amtlichen Aufzeichnungen zufolge, darunter vier Frauen und ein Kind.

Wie die Deutschen auf die Revolte reagierten, zeigt eine Notiz eines gewissen Korvettenkapitäns Gudewill: "Die härteste Bestrafung des Feindes ist notwendig als Sühne für die zahllosen, grausamen Morde und als Garantie für eine friedliche Zukunft. Um Ruhe und Vertrauen der Weißen herzustellen, ist völlige Entwaffnung und Einziehung von sämtlichen Ländereien und Vieh einzigstes Mittel." Der Rachedurst war so groß, dass der deutsche Oberst und Gouverneur Theodor Leutwein seine Landsleute vor "unüberlegten Stimmen" warnte, welche "die Herero nunmehr vollständig vernichtet sehen wollen". Schließlich lasse sich ein Volk von mehreren Zehntausend Menschen "nicht so leicht vernichten". Außerdem brauche man die Herero als "kleine Viehzüchter und besonders als Arbeiter".

Der nüchterne Leutwein hatte bald nichts mehr zu sagen. Kaiser Wilhelm schickte Generalleutnant Lothar von Trotha, einen für sein harsches Vorgehen berüchtigten Infanterieoffizier. Trotha erklärte am 4. August 1904, er werde "den Feind gleichzeitig mit allen Abteilungen angreifen, um ihn zu vernichten". Was sich eine Woche später, am 11. August, ereignete, ist als "Schlacht am Waterberg" in die deutschen Geschichtsbücher eingegangen, die Herero erzählen von der "Schlacht von Hamakari". Hamakari, so heißt auch Diekmanns Jagd- und Gästefarm. Ein Teil der Kämpfe ereignete sich damals hier.

Mensch und Vieh verdursten in der wasserlosen Omaheke

Der Deutsch-Namibier lenkt seinen Jeep nun zwischen den Dornbüschen und Termitenhügeln hinunter zu einem Tümpel, das Wasser ist grün von Algen. In der Senke um die Wasserstelle hatten sich nach der verlorenen Schlacht Tausende Herero versammelt. Die Häuptlinge berieten, wie sie der Einkesselung durch die Deutschen entgehen könnten. Ihr Plan: den Belagerungsring durchstoßen und nach Osten fliehen, in Richtung der britischen Kolonie Betschuanaland. Dieser Fluchtweg führte durch die Omaheke-Wüste.

An diesem Abend begann das, was der Historiker Jürgen Zimmerer als die "eigentliche genozidale Phase" bezeichnet, als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, begangen von Deutschen. Die Schutztruppen stellten ihrem Gegner nach, obwohl "die Widerstandskraft der Herero vollständig gebrochen war", wie Oberst Berthold von Deimling notierte. "Zwar konnten wir noch einige Male, namentlich mit Artillerie, in die abziehenden Haufen hineinschießen, aber zu ernsten Gefechten stellten sie sich nicht mehr. Sie waren nur von dem einen Trieb beseelt, uns zu entfliehen; dabei liefen sie aber einem anderen Verhängnis in die Arme, dem des Verdurstens in der Omaheke, dem Sandfeld."

Ein anderer Offizier schrieb in sein Tagebuch: "Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit." Das Vieh der Herero, hielt ein weiterer Soldat fest, "lag mit der Masse des Volkes verdurstet im Busch, säumte die Pfade ihres Todeszugs". Der Generalstab in Berlin bilanzierte: "Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes."

Völkermord? Unsinn, sagen die meisten deutschstämmigen Namibier. Die Nachfahren der Siedler berufen sich auf einen der ihren, den Hobbyhistoriker Hinrich Schneider-Waterberg. Der schreibt seit Jahren von seiner Farm aus gegen das "gruselige Märchen vom ersten deutschen Genozid" an: Die Flucht durch die Omaheke sei in Wahrheit "für große Teile der Herero eine Migration oder Auswanderung" gewesen, "für andere ein Untertauchen in schützendem Dornbusch aus eigenem Antrieb".

Nach dem Massensterben in der wüstenartigen Savanne wurden "die Reste des Hererovolkes", wie es offiziell hieß, in Konzentrationslager verschleppt, zu Schwerstarbeit gezwungen, an deutsche Geschäftsleute als Sklaven übergeben. Viele starben in den KZs. "An Vitaminmangel", schreibt Schneider-Waterberg; darunter hätten damals schließlich auch Deutsche gelitten. Das deutsche Kolonialstaatssekretariat begann währenddessen mit der "Inwertsetzung" des enteigneten Landes. Es war die Zeit, als Wilhelm Diekmanns Urgroßvater und Großvater in der Zeitung lasen, wie "notwendig" deutsche Siedler in der Kolonie gebraucht würden, als sie der Aufforderung folgten und den Reichspostdampfer nach Deutsch-Südwest bestiegen.

Die Frage, ob die Herero ihr Land gut hundert Jahre später zurückbekommen sollten, findet Diekmann falsch gestellt. "Die Herero haben damals den Krieg angefangen. Wenn man einen Krieg anfängt und der dann ungünstig für einen ausgeht, dann darf man sich eigentlich nicht beschweren." Diekmann vergleicht den Herero-Aufstand mit dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland angefangen habe und für den es bestraft worden sei: "Soweit ich weiß, sind Schlesier und Pommern nicht ausbezahlt worden."

Die Thesen von Männern wie Schneider-Waterberg oder Diekmann haben sich seit Juli 2016 offiziell erledigt: Berlin hat die Verbrechen als Völkermord anerkannt. Den Konflikt darum, ob Deutschland Wiedergutmachung leisten könne oder müsse, hat das aber erst richtig angefacht.

Der Herero Zedekia Ngavirue will die heikle Beziehung richten

Namibia und seine Deutschen. Zedekia Ngavirue, ein pensionierter Diplomat, will diese heikle Beziehung richten. Der 84-Jährige sitzt im sechsten Stock des namibischen Außenministeriums und blickt über die staubigen Hügel der Hauptstadt Windhoek. Hätte ihn die Regierung nicht für diese Mission aus dem Ruhestand geholt, säße er heute auf seiner Farm am Waterberg. 9000 Hektar Land, die er Hinrich Schneider-Waterberg abgekauft hat. Also jenem Hobbyhistoriker, der darauf beharrt, dass es "einen Völkermord niemals gegeben" habe. Abgekauft? Ja, sagt der namibische Diplomat sanft, "wir wollen die Deutschen ja nicht so behandeln, wie sie uns behandelt haben".

Mit Schneider-Waterberg verbindet den Herero eine Freundschaft, seit der als einziger Weißer auf der Beerdigung seines Großonkels erschienen sei. "Wir haben viele Gemeinsamkeiten", sagt der Diplomat, "beide lieben wir Geschichtsbücher. Auch wenn wir unterschiedliche Schlüsse daraus ziehen." Ngavirue ist Urenkel eines der Herero-Häuptlinge, die den Genozid überlebt hatten; er hat in Geschichte promoviert und viele Jahre seines Lebens im Exil verbracht, er hat gegen das Apartheid-Regime der Südafrikaner gekämpft.

Briten und Buren, die das Kap im Südwesten des Kontinents besetzt hielten, hatten den Deutschen ihre Kolonie im Ersten Weltkrieg abgenommen, waren von 1915 bis 1990 als Besatzer geblieben. Sie führten die Rassentrennung fort, welche die Deutschen eingeführt hatten, trieben sie voran zu perverser Perfektion. Zedekia Ngavirue erklärte 1961 vor einer UN-Kommission: "Mein Urgroßvater hatte nie eine Schule besucht, aber er besaß 25 000 Rinder, bevor wir im Jahr 1903 erobert wurden. Ich habe einen Hochschulabschluss, aber besitze nicht einmal ein Huhn."

Nach Namibias Unabhängigkeit 1990 begann Ngavirues Karriere, er vertrat sein Land als Botschafter in Brüssel. Heute verhandelt er als Sondergesandter Namibias mit dem Rechtsnachfolger des Kaiserreichs: über eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik, über eine Entschädigung für den Genozid. Die Bundesregierung hatte im Juli klargestellt, man werde künftig offiziell das Wort "Völkermord" verwenden, einen Anspruch der Herero auf Wiedergutmachung bedeute das aber keinesfalls. "Ich gehe davon aus", sagt Ngavirue, "dass das eine Formulierung für den innerdeutschen Gebrauch war. Das moderne Deutschland möchte doch, nehme ich an, in der heutigen Welt nicht als bloße Sieger-Nation gesehen werden."

Eine Einigung, "die nicht mal so viel wert wäre wie ein Stück Klopapier"

Aber so geschmeidig wird selbst der beharrliche Ngavirue das Problem nicht lösen können. Das Volk der Herero ist gespalten. Viele sehen ihn als "Marionette, als handzahmen Funktionär der Regierung, die die Herero bei Verteilungsfragen stets übervorteilen wolle. Für viele Herero ist es blanke Provokation, was Ngavirue sagt: dass die Deutschstämmigen die "Cousins", also quasi Verwandte, innerhalb der modernen namibischen Nation seien. Dass die Verfassung von 1990 das Recht auf Eigentum garantiere. Dass Stabilität in einem so jungen Staat nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfe. Wie hatte Paramount Chief Rukoro bei der Gedenkfeier gezürnt: Was immer Ngavirue und die Deutschen miteinander aushandelten, unter Ausschluss der traditionellen Herero-Führer, werde "nicht einmal so viel wert sein wie ein Stück Klopapier".

Diekmann, der deutschstämmige Farmer, dessen Vorfahren zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nach Afrika kamen, macht sich Sorgen. Und das seit einigen Jahren. Im Frühjahr 2000 fing Simbabwes Präsident Robert Mugabe an, weiße Farmer zu enteignen. Häuser gingen in Flammen auf, Farmer rannten um ihr Leben, manche vergeblich. "Mugabe ist in Namibia sehr beliebt. Wenn die deutsche Regierung die Erwartungen nicht befriedigt, die sie unter den Herero geschürt hat, könnten wir zum Bauernopfer werden."

Diekmann hat einen Plan B: "Uruguay." Einige seiner Bekannten sind schon vor Jahren ausgewandert; nach allem, was er aus Südamerika so hört, geht es ihnen gut. "Da gibt es auch keine Indianer mehr", sagt Diekmann, "die einem vorwerfen, man besetze ihr Land." Uruguay, das ist weit. Es wäre die allerletzte Zuflucht. Aber auch nicht die allerschlechteste Perspektive. Diekmann und seine Frau wollen demnächst dorthin reisen: "Anschauen", sagt er, "anschauen kann man es sich ja mal."

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