Der Terroranschlag von Madrid hat auch in Belgien die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und die Berichte über den Prozess gegen Marc Dutroux auf die hinteren Zeitungsseiten rücken lassen. Doch jetzt macht Belgiens "meistgehasster Gefangener" wieder Schlagzeilen. "Fluchtversuch Dutroux' vereitelt", titelt Le Soir.
Andere Zeitungen sind vorsichtiger und fügen wenigstens ein Fragezeichen an. Denn der Anlass der Aufregung scheint eher bizarr als spektakulär: Ein Aufseher im Gefängnis von Arlon hat in einem Schrank nahe bei Marc Dutroux' Zelle in einem Glas mit Salz einen Schlüssel entdeckt, mit dem man Handschellen aufsperren kann.
Der Schlüssel passt offenbar nicht zu den Handschellen, die dem Angeklagten jeden Tag angelegt werden, wenn er die paar hundert Meter zwischen dem Gefängnis und dem Justizgebäude von Arlon zurücklegt, wo er sich seit drei Wochen mit drei Mitangeklagten wegen Mord, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung zu Lasten mehrerer junger Mädchen verantworten muss.
Dennoch ist die belgische Regierung alarmiert und hat sofort eine Untersuchung angeordnet. Zu tief sitzt noch der Schrecken über die Flucht, die Dutroux 1998 geglückt war, als er im Gerichtsgebäude von Neufchateau zwei Wachmänner überwältigt hatte und für einige Stunden in einenWald verschwunden war, bis er wieder festgenommen werden konnte. Der Innen-und der Justizminister der damaligen konservativen Regierungen traten daraufhin zurück.
Doch immer noch kommt es zu neuen Zwischenfällen: Da kann ein Wärter in Arlon Fotos von Dutroux schießen und für viel Geld an die Presse verkaufen. Da steht zum wiederholten Mal die hintere Tür des Fahrzeugs offen, mit dem Dutroux vom Prozess wieder ins Gefängnis gebracht wird. Das sind Schlampereien - typisch belgisch, könnte man sagen - , die aber gerade bei einem Angeklagten dieses Kalibers nicht passieren dürften. Die Atmosphäre im Gerichtssaal selbst hat sich in den vergangenen Tagen deutlich aufgeheizt.
Vier Tage lang hatte der Untersuchungsrichter Jacques Langlois die Ergebnisse seiner siebenjährigen Ermittlungen vorgestellt. Gründlich und methodisch hatte er dargelegt, warum er Dutroux als Einzeltäter sieht und nicht glaubt, dass der Brüsseler Betrüger Michel Nihoul das "Scharnier" gewesen sei zwischen diesem Psychopathen und einem größeren pädophilen Netzwerk. Doch einen Teil der Familien hat er damit nicht überzeugt.
Die Väter der toten An und der toten Julie, Paul Marchal und Jean-Denis Lejeune, der zum erstenmal in Arlon anwesend war, griffen Langlois scharf an. Er habe wichtige Spuren zu einem Netzwerk vernachlässigt, habe sich von Dutroux "manipulieren" lassen und wenig bis nichts herausgefunden über das konkrete Schicksal ihrer Töchter. Sechseinhalb Stunden nahmen dann allein die Anwälte der überlebenden Laetitia den Richter unter Beschuss und zweifelten vor allem am Alibi für Michel Nihoul.
Richter Langlois wehrte sich so gut er konnte, doch mit immer dünner werdender Haut: "Ich habe das Gefühl, ich bin hier der Hauptangeklagte", rief er einmal fast verzweifelt. Er habe sich an die Fakten halten müssen. Wäre er allen auch noch so theoretischen Spuren nachgegangen, hätte seine Untersuchung anstatt sieben zwanzig Jahre gedauert. So hat Langlois auch nichts davon gehalten, sämtliche 4000 Haare, die man aus Dutroux' Kellerversteck geborgen hat, im Labor zu untersuchen. Die Kosten - "zwei Millionen Euro" - hätten für ihn in keinem Verhältnis zum Aussagewert gestanden, so Langlois.
Ein Experte des Polizeilabors bestätigte im Gericht, dass die Anwesenheit bestimmter DNS-Spuren im Keller kein Beweis dafür sei, dass die entsprechenden Personen, sofern man sie überhaupt zuordnen kann, sich dort auch aufgehalten haben. Die Spuren könnten sich auch auf Kleidungsstücken oder Polstern befunden haben, mit denen die Opfer oder Dutroux selbst außerhalb des Kellers in Kontakt geraten waren.
Die Vorwürfe der Väter der toten Kinder gingen jedoch weit über diese kriminalistischen Aspekte hinaus. Jean-Denis Lejeune griff Langlois an, weil er kein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben habe, wie sich die beiden achtjährigen Mädchen Julie und Melissa in ihrer Kerkerhaft gefühlt haben müssen.
Der Vater von An hatte auf einer anderen Untersuchung bestanden: Er wollte wissen, welche Folgen die Hypnose gehabt haben könnte, der sich seineTochter kurz vor der Entführung bei einer Bühnenshow ausgesetzt hatte. Alle aufgestauten Ängste und Ungewissheiten der Familien brachen da wieder auf. Der Untersuchungsrichter Jacques Langlois musste am Ende von sieben anstrengenden Gerichtstagen erkennen: "Ich bin der Blitzableiter."