Süddeutsche Zeitung

Drogenkrieg in Mexiko: Polizeireporterin:Journalismus zwischen Leichen

Lucy Sosa ist den Tod gewohnt: Die 41-Jährige ist Polizeireporterin in Ciudad Juárez, Hauptschauplatz des mexikanischen Drogenkriegs - und mittlerweile gefährlichster Ort der Welt. Dort tobt der brutale Kampf um Drogen, Geld und Macht, zwei ihrer Kollegen wurden bereits getötet. Von der Regierung erwartet sie allerdings keine Hilfe.

Camilo Jiménez und Inga Rahmsdorf

Lucy Sosa kommt gerade von einer Sightseeingfahrt durch Berlin. Während andere Touristen Sehenswürdigkeiten fotografieren, hat Sosa die Einschusslöcher in kriegsgeschädigten Altbauten aufgenommen. "Wie aus Instinkt", sagt die 41-Jährige, die zu einer Konferenz in die deutsche Hauptstadt gereist ist. Sosa arbeitet seit 22 Jahren als Polizeireporterin für die mexikanische Tageszeitung El Diario de Juárez. Täglich berichtet sie über die brutalen Verbrechen in Ciudad Juárez. Die Stadt an der US-Grenze war schon immer ein wichtiger Transitplatz für Drogen in Mexiko. Doch seit einigen Jahren ist die Gewalt eskaliert, Ciudad Juárez gilt nun als einer der gefährlichsten Orte der Welt.

SZ: Frau Sosa, Sie sind Polizeireporterin in einer Stadt, die sich seit Jahren im Kriegszustand befindet. Unliebsame Journalisten werden dort einfach aus dem Weg geräumt. Wie muss man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?

Lucy Sosa: Wenn es eine Schießerei, ein Massaker gibt, wenn Leichen gefunden werden, bekommen wir meist einen Anruf. Das passiert in der Regel mehrmals täglich. Dann fahren mein Fotograf und ich sofort dorthin. Gemeinsam. Seit zwei meiner Kollegen erschossen wurden, gehen wir nicht mehr alleine los. Wir schauen uns am Tatort um, sprechen mit Polizisten, mit Familienangehörigen, mit Zeugen, mit allen Seiten, berichten dann darüber und recherchieren oft noch weiter.

SZ: Den Medien in Mexiko wird vorgeworfen, den Drogenkrieg noch zu befeuern, indem sie über die Verbrechen berichten. Sind Sie als Journalistin auch zum Spielball der Kartelle geworden?

Sosa: Wir müssen vorsichtig sein. Die Gewalttaten werden so brutal inszeniert, dass sie abschrecken und erniedrigen sollen. Die Opfer werden aufgehängt, enthauptet, die Glieder abgeschnitten und verteilt. In unserer Redaktion diskutieren wir ständig darüber, was wir berichten sollen und wie.

SZ: Aus Angst?

Sosa: Nein, sondern weil wir uns nicht an dem organisierten Verbrechen beteiligen wollen. Viele der kriminellen Banden hinterlassen Botschaften bei den Leichen. Sie setzen darauf, dass die Medien diese Botschaften verbreiten. Wir müssen also sehr aufpassen, dass wir nicht benutzt werden. Wir können aber eben auch nicht zulassen, dass die Regierung nur ihre Version verbreitet.

SZ: Können Sie mit Ihrer Arbeit denn etwas bewirken in diesem Drogenkrieg?

Sosa: Immer weniger Journalisten berichten darüber. Es gibt Städte, in denen es gar keine kritische Berichterstattung mehr gibt. Wenn aber niemand mehr recherchiert, dann wissen die Leute gar nicht mehr, was passiert. Gerade wieder hat die Polizei die fünf angeblich gefährlichsten Mörder vorgeführt. Doch dann haben wir herausgefunden, dass sie unschuldig sind. Wir können informieren und ein Bewusstsein schaffen.

SZ: Verstehen Sie überhaupt noch, wer eigentlich gegen wen dabei kämpft?

Sosa: Es ist oft kompliziert und es gibt nicht einfach die Guten und die Bösen. Es ist kein Krieg gegen die Drogen, wie die Regierung sagt, sondern ein Krieg um Drogen, um Geld und Macht. Staat und Polizei können wir genauso wenig trauen wie den Banden. Mexiko ist durch und durch korrupt. Von der Regierung können wir nichts erwarten. Wir können nur selbst dafür kämpfen, etwas zu verändern.

SZ: Ihr Kollege und enger Freund Armando Rodríguez ist bei der Arbeit erschossen worden, war das kein Grund für Sie aufzuhören?

Sosa: Nein, eher im Gegenteil. Ich habe gesagt, jetzt erst recht. Armando war wie ich Polizeireporter. Ich habe über seinen Tod berichtet und es war eine der schwierigsten Aufgaben meines Lebens. Bis heute wurde nicht aufgeklärt, wer ihn umgebracht hat oder warum. Wir hören Gerüchte, doch wir sind uns nur über eines sicher: Armando wurde erschossen, weil er Journalist war. Er war der beste Polizeireporter. Vielleicht wusste er zu viel. Die meisten Verbrechen werden nie verfolgt.

SZ: 2010 wurde auch Ihr Fotograf Luis Carlos Santiago umgebracht.

Sosa: Luis Carlos starb bei einer Schießerei. Ein anderer junger Kollege, der überlebte, gab mir später eine der Kugeln, die ihn fast umgebracht hätten. Ich sammle solche Gegenstände.

SZ: Sie sammeln Pistolenkugeln?

Sosa: Ja, Gegenstände, die ich am Tatort finde: Schädelstücke eines Paares, das im Tal von Juárez ermordet wurde, Steine mit Blutspuren von Menschen, die die Armee umgebracht hat, die blutverschmierten Schnürsenkel von zwei Geschwistern, die erschossen wurden.

SZ: Warum bewahren Sie das auf?

Sosa: So werde ich jeden Tag daran erinnert, warum ich Journalistin bin. Manche werfen mir vor, dass ich der Polizei wichtige Beweise stehle. Aber wirklich schlimm ist doch, dass die Sachen dort herumliegen, nachdem die Polizei ihre Arbeit angeblich gemacht hat. Für die meisten Übergriffe auf Journalisten sind nicht die Banden, sondern Polizisten verantwortlich. Vor wenigen Tagen wurden fünf Kollegen ohne weitere Erklärung verhaftet. Einem Kameramann warfen Polizisten vor, dass er Filmmaterial an die Kartelle weitergebe. Das sind schwerwiegende Vorwürfe. Journalisten werden immer öfter kriminalisiert.

SZ: Tragen Sie eine schusssichere Weste, wenn Sie an die Tatorte fahren?

Sosa: Oh, nein. Ich habe weder einen gepanzerten Wagen noch Bodyguards. Wer sollte mich denn schützen? Die Polizei? Ich würde lieber aufhören, als den Staat um Schutz zu bitten. Wir passen auf uns selbst auf. Wir haben gerade mit einigen Journalistinnen ein Netzwerk gegründet. Wichtig ist zu wissen, wie wir uns gegen Übergriffe durch Polizei und Soldaten schützen und diese anzeigen können.

SZ: Haben Sie denn gar keine Angst bei der Arbeit?

Sosa: Ich habe Angst, aber nicht weil ich Reporterin bin, sondern weil ich in Juárez wohne. Hier wissen wir nicht, ob wir abends nach Hause kommen. Journalismus kann man nicht mit Angst machen. Ich will weder Heldin noch Märtyrerin sein. Das ist mein Job. Angst ist keine Lösung, sie ist unser Ende.

SZ: Was sagen Ihre 16-jährige Tochter und Ihr 19-jähriger Sohn dazu?

Sosa: Sie kennen meine Arbeit und wissen, wie wichtig sie für mich ist. Und sie kennen es ja auch nicht anders. Mein Sohn hat vergangene Woche eine Hinrichtung erlebt. Er war in einem Laden, er hat die Schüsse gesehen, die Toten, die Täter. Hinterher hat er zu mir gesagt: Es waren keine Kriminellen, es waren einfach Jugendliche, die ein Getränk kaufen wollten. Was antwortest du ihm da?

SZ: Haben Ihre Kinder denn nie protestiert, dass ihre Mutter so einen gefährlichen Job macht?

Sosa: Wir sprechen viel darüber. Und sie passen manchmal mehr auf mich auf als ich. Als mein Fotograf erschossen wurde, sagte mir meine Tochter, sie wolle kein Waisenkind werden. Ich antwortete ihr, dass ich ohnehin irgendwann sterben werde, bei der Arbeit oder einfach so. Wir sprechen oft über den Tod. Sie wissen, dass sie meine Asche zu einem Aussichtspunkt bringen und über das Juárez-Tal streuen sollen. Ich will keine Beerdigung. Ich war in den vergangenen Jahren so oft bei Beerdigungen, es ist eine Folter. Mexikanische Beerdigungen sind so traurig.

SZ: Wie halten Sie das alles aus?

Sosa: Ich sehe jeden Tag grausame Dinge, durchlöcherte Leichen junger Menschen, abgetrennte Köpfe. Dann gehe ich nach Hause und versuche mich abzulenken. Ich bin auch Mutter, habe Geschwister und Freunde. Ich suche nach Wegen. Und jetzt werde ich auch Oma. Das freut mich so. Jemand hat mal gesagt, ein Baby sei ein Zeichen Gottes, dass wir weitermachen müssen.

SZ: Glauben Sie an Gott?

Sosa: Ja.

SZ: Hat Gott Ciudad Juárez verlassen?

Sosa: Nein, nicht Gott hat Juárez verlassen, sondern die Regierung.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2011/cag
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