Drogenkrieg in Mexiko:Das Phantom mit den Ziegenhörnern

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Zehn Jahre nach seiner Flucht kontrolliert der mexikanische Kartellchef Joaquín Guzmán Loera den internationalen Drogenmarkt. Aktuelle Bilder von ihm gibt es keine, Legenden dafür umso mehr - zum Beispiel über seine Lieblingswaffen.

Peter Burghardt

Der wohl folgenreichste Ausbruch der jüngeren Gefängnisgeschichte ereignete sich am 19. und 20. Januar 2001. Mühelos entkam Joaquín Guzmán Loera damals der hochgesicherten Haftanstalt Puente Grande bei Guadalajara in Mexiko, in der er acht Jahre lang eingesessen hatte. Die einen sagen, der inzwischen führende Drogenhändler der Welt habe seine Zelle im Fahrzeug einer Wäscherei verlassen. Den Weg gebahnt hätten ihm gekaufte Angestellte vom Direktor über den Aufseher bis zur Köchin. Andere behaupten, er sei in Polizeiuniform und mit Kapuze hinausspaziert, geleitet von Polizisten. Danach habe man ihn mit einem Hubschrauber in ein Versteck geflogen. Zurück ließ er acht elektronisch überwachte Türen. Es begann der Rückweg in eine wahnwitzige Verbrecherkarriere.

Seit seiner Festnahme im Juni 1993 gibt es keine Bilder mehr von Joaquín "El Chapo" Guzmán, dem mächtigsten Mann im internationalen Drogengeschäft. (Foto: AP)

Zehn Jahre später ist Guzmán eines der mächtigsten Phantome des Planeten, die Hauptfigur in Mexikos Drogenkrieg. Der Unsichtbare gilt als eine entscheidende Größe dieses Gemetzels, dabei misst er kaum 1,60 Meter, daher der Beiname El Chapo, der Kurze. Der kleine Mann von 53 Jahren führt das Kartell von Sinaloa, die bedeutendste Schmugglerorganisation Gesamtamerikas. Die Gang bekämpft Rivalen und Regierung, auch Unbeteiligte geraten ständig zwischen die Fronten.

Es geht um Routen, Märkte, Milliarden. Fast 35.000 Menschen wurden ermordet, seit Mexikos Präsident Felipe Calderón 2006 die Armee ins Gefecht gegen die Kartelle schickte. Der vermeintliche Staatsfeind Nummer 1 wird immer reicher, berüchtigter und geheimnisvoller. Das US-Magazin Forbes zählt ihn zu den Dollarmilliardären und wies ihm auf der Liste der einflussreichsten Zeitgenossen Rang 60 zu, drei Plätze hinter Osama bin Laden.

Längst scheint der flüchtige Chapo das Erbe des Kolumbianers Pablo Escobar angetreten zu haben. Escobar wurde 1993 auf den Dächern von Medellín erschossen, die besten Geschäfte mit kolumbianischem Kokain und anderen Rauschmitteln machen heute Mexikaner. Branchenführer ist die Bande aus Sinaloa, auch genannt das Pazifikkartell oder schlicht "Föderation", mit ihrem Anführer Joaquín El Chapo Guzmán und seinem Kumpanen Ismael "El Mayo" Zambada. Washingtons Antidrogenbehörde DEA hat auf Chapos Ergreifung fünf Millionen Dollar Belohnung ausgesetzt, Mexiko zwei Millionen Dollar. Doch zweifeln viele, dass wirklich nach dem Entflohenen gefahndet wird.

Vom Bauersohn zum Drogenkönig

Seine Basis sind die zerklüfteten Berge des Bundesstaates Sinaloa. In der Gegend von Badiraguato wurde der Bauernsohn 1957 geboren, viele Kapos kommen aus dieser armen Provinz. Und nur wenige Familien bestimmen bei Mexikos Version der Mafia. Karriere machte Guzmán als Helfer des früheren Paten Miguel Ángel Félix Gallardo, der den Verkehr in die USA kontrollierte. Nach Gallardos Festnahme 1989 übernahm er die Sinaloa-Connection und wurde später zum König der Szene.

Logistiker Guzmán ließ Chilischoten mit dem Stoff füllen und perfektionierte den Flugtransport mit Kokain, Heroin, Marihuana und Amphetaminen von Mexikos Goldenem Dreieck Sinaloa, Durango und Chihuahua nach Arizona und Kalifornien. Heute reichen die Arme seiner Organisation bis nach Argentinien und Australien. Der Journalist José Reveles glaubt, der globalisierte Delinquentenkonzern beherrsche 3500 Firmen weltweit. Geschätzter Jahresumsatz: 18 Milliarden Dollar.

Damit lassen sich Arsenale von Waffen kaufen, Richter, Polizisten, Politiker. Man bekriegt oder verbündet sich. Das Aufgebot von Gúzman und Zambada stieß vor ins Revier von Tijuana und Ciudad Juárez, zwei der tödlichsten Städte des Globus. Konkurrenten wurden ausgeschaltet, mit den Kartellen del Golfo und La Familia paktierte der Clan. Vor allem das Duell mit den "Zetas", als Schlächter bekannte ehemalige Elitesoldaten, ist ein Blutbad.

Einem Partner von Guzmán schickten Auftragskiller den Kopf seiner Frau und stürzten zwei seiner Kinder von einer Brücke. Guzmáns Sohn Édgar wurde auf einem Parkplatz von Sinaloas Regionalhauptstadt Culiacán von Kugeln durchsiebt. Ihre Toten betten die Sippen in monumentale Gräber, unter Kuppeln wie im Petersdom, Culiacán ist auch voller Villen, Banken, Autogeschäfte und der Flughafen voller Kleinflugzeuge. Unbekannte Opfer landen dagegen im Straßengraben. Kürzlich lagen im Touristenort Acapulco wieder 14 enthauptete Leichen, daneben warnende Grüße im Namen von El Chapo.

Die jüngsten Fotos des Granden stammen von der Festnahme vor 18 Jahren und zeigen eine gedrungene Gestalt mit Anorak. Seit seiner Flucht will ihn niemand mehr gesehen haben, andererseits blühen die Legenden. Gúzman soll Restaurants in Culiacán und Ciudad Juárez betreten haben, Bodyguards hätten von den Gästen die Handys eingesammelt und nach dem Dinner für alle bezahlt. Er habe in zweiter Ehe eine 18-jährige Schönheitskönigin geheiratet. Er flaniere gerne in Mazatlán am Meer.

Seine Lieblingswaffen seien Gewehre vom Typ AK-47, genannt Cuerno de Chivo, Ziegenhorn, gerne vergoldet. Er wird besungen in Narcocorridos, Heldenliedern über die Narcos, die Drogendealer. Ansonsten gilt der Kapo der Kapos als vergleichsweise dezent. Er lebe an 15 verschiedenen Orten, geschützt von 300 Leibwächtern, berichtete Mexikos Verteidigungsminister Guillermo Galván laut Wikileaks. Der Erzbischof Héctor González aus Durango spottete 2009, jeder wisse doch, dass El Chapo nahe von Guanaceví wohne - "außer den Behörden". Kurz darauf wurden in der Nähe des Dorfes zwei tote Offiziere entdeckt, dazu fand sich ein Hinweis: "Mit dem Chapo werdet ihr nie fertig, weder Priester noch die Regierung."

Zweifel am Fahndungswillen

Die Regierung Calderón dagegen meldet, wie Kollegen getötet oder verhaftet werden. "Systematisch" würden die Kriminellen vom Pazifik bekämpft. Zu den Trophäen gehört Ignacio "Nacho" Coronel, Sinaloas mutmaßliche Nummer 3, der 2010 bei einer Schießerei getötet wurde. Fahnder präsentieren Tonnen von weißem Pulver, Koffer voller Geld, Waffenlager und Fuhrparks. Kritiker allerdings bezweifeln, dass Calderón hinter dem sagenumwobenen Chapo her ist.

Auch dem Magazin Economist fiel auf, dass andere Kartelle entschlossener attackiert werden. Die Zeitung El Universal stellt fest, dass Guzmáns Sinaloa seit Calderóns Amtsantritt deutlich gewachsen sei. Auch die Journalistin Anabel Hernández stützt in ihrem Buch Die Herren des Narco die These vom Pakt mit der Politik, um das Verbrechen zu monopolisieren.

Bei Sinaloa traue sich niemand, El Chapo zu verraten, fürchten Experten. Man bräuchte 100.000 Soldaten, um sein Territorium von 60.000 Quadratkilometern zu durchkämmen, klagt ein Funktionär. Von den offiziellen Fluchthelfern von 2001 sind nur noch ein paar im Gefängnis.

© SZ vom 03.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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