Ausgerechnet die Pandemie könnte am Ende ein paar Leben gerettet haben. Als am frühen Mittwochmorgen die ersten Patienten in Krankenhäuser im Großraum Buenos Aires eingeliefert wurden nach dem Konsum von gepanschtem Kokain, mussten viele bald auch künstlich beatmet werden - an Maschinen, die eigentlich angeschafft worden waren zur Behandlung von Corona-Patienten. "Wenn wir nicht die Covid-Vorkehrungen getroffen hätten, wäre jetzt die Zahl der Opfer noch deutlich höher", sagte Nicolás Kreplak, der Gesundheitsminister der Provinz Buenos Aires.
Mehr als 80 Personen mussten behandelt werden, für etwa zwei Dutzend Menschen kam aber jede Hilfe zu spät: Erst Krämpfe, dann Herzstillstand, manche starben im Krankenhaus, andere bei sich zu Hause oder mitten auf der Straße.
Selbst erfahrene Ärzte und Ermittler sagen, einen Fall von dieser Größenordnung hätten sie noch nicht erlebt. Und während die Behörden den Gesundheitsnotstand ausgerufen haben, blickt Argentinien geschockt auf die Abgründe, die sich da auf einmal auftun. Zunächst einmal steht da die Frage, mit welchem Stoff das Kokain versetzt wurde - und warum. Eine erste Vermutung war Rattengift: Eine Drogengang habe es der Ladung einer anderen untergemischt, um so deren Ruf zu zerstören und am Ende ihr Territorium übernehmen zu können.
Ermittler sind mittlerweile von der Drogenkrieg-Theorie abgerückt
Argentinien hat nach den USA und Uruguay eine der höchsten Raten von Kokainkonsum in Nord- und Südamerika. In Clubs und Bars ist die Droge leicht und vergleichsweise billig zu bekommen und wie weitverbreitet der Konsum ist, zeigt schon die Tatsache, dass viele der jetzigen Opfer an einem ganz normalen Mittwochmorgen eingeliefert wurden: Sie hatten sich am Abend zuvor das Fußballspiel zwischen Argentinien und Kolumbien mit einem Näschen Koks versüßen wollen.

Laut dem Sicherheitsminister von Buenos Aires sollen allein im Großraum der Millionenmetropole jeden Tag 250 000 Tütchen der Droge verkauft werden. Ein lukrativer Markt also, dazu kommt, dass argentinische Häfen längst auch Zwischenstationen der weltweiten Schmuggelrouten für Kokain sind.
Verfeindete Kartelle kämpfen zunehmend erbittert um Macht und Terrain. Armenviertel und Gefängnisse sind in der Hand von mächtigen Gangs, und in Rosario, immerhin Argentiniens drittgrößter Stadt, in der auch Lionel Messi und Che Guevara geboren wurden, ist die Lage schon jetzt so außer Kontrolle, dass der Bürgermeister im September die Bundespolizei um Hilfe anflehte: "Lasst uns nicht allein!", schrieb er auf Twitter. Zuvor hatten Killer innerhalb von wenigen Stunden mehrere Menschen ermordet und eine Vierjährige schwer verletzt.
Kurz: Ein Drogenkrieg als Motiv wäre nicht unwahrscheinlich. Dennoch sind die Ermittler mittlerweile von dieser Theorie abgerückt. Sie gehen stattdessen von einem Unfall oder Fehler beim Strecken des Kokains aus.
Wurde das Kokain mit Fentanyl versetzt?
In den allermeisten Fällen kommt die Droge nicht in ihrer Reinform bei den Konsumenten an. Um ihren Profit zu steigern, versetzen Dealer das Pulver mit Laktose oder Stärke, aber auch mit Wirkstoffen wie Koffein, Schmerz- oder Betäubungsmitteln. So soll den Nutzern eine stärkere Dosierung vorgetäuscht werden.

Weil viele der Patienten, die nun in die Krankenhäuser in Buenos Aires eingeliefert worden sind, auf Gegenmittel gegen Opiate ansprechen, glauben Experten, dass das Kokain vielleicht mit Fentanyl versetzt wurde, ein extrem starkes synthetisches Opioid. Ähnliche Fälle wurden zuletzt auch aus den USA bekannt.
Mittlerweile hat die Polizei ein gutes Dutzend Verdächtige festgenommen, darunter auch einen als "El Paisa" bekannten lokalen Drogenboss. Aus seinen Lagern, so die Vermutung, sollen die verunreinigte Drogen ursprünglich gekommen sein. Mehrere Tausend Tütchen wurden bei den Razzien sichergestellt. Die Hoffnung ist nun, dass nicht noch mehr verunreinigtes Kokain im Umlauf ist.