Eine Person ganz in Weiß, die Kappe tief ins Gesicht gezogen, sitzt vor dem Rathaus auf einem Holzstuhl, sie hält ihre blanke Armbeuge in den strömenden Regen, zwei andere weiß gekleidete Männer kochen mit einem Feuerzeug eine braune Flüssigkeit auf einem Löffel auf, ziehen sie in eine Spritze, drücken die Nadel in die Vene. Ein Schuss im Herzen der Stadt.
Mit ihrer umstrittenen Performance "Im Windschatten des Niedergangs" protestierte die Künstlergruppe "Frankfurter Hauptschule" am Freitagabend gegen die Gentrifizierung des Bahnhofsviertels. Die Künstler, die offenließen, was in der Spritze war, wehrten sich gegen die Verdrängung der Süchtigen aus dem Viertel.
Im Bahnhofsviertel wird gebaut, abgerissen, kernsaniert, Bordelle werden zu schicken Hotels, Spielhöllen zu hippen Cafés. In der Kaiserstraße reihen sich Burgerläden an Backshops, Banker im Anzug eilen die Straße entlang, an deren Ende man sieht, wie sich die einander spiegelnden Türme der Banken in den Himmel schrauben. An der Ecke wurde gerade ein Penthouse verkauft, für 1,5 Millionen Euro. Früher wollte hier niemand freiwillig hin, jetzt ist es Frankfurts neues Szeneviertel: Zentral gelegenes und städtisch gefördertes Wohnen, in schönen alten Häusern, in einer Gegend, die wilden Charme ausstrahlt, aber eben nicht mehr so kaputt wirkt. Das ist einerseits schön. Anderseits ist das genau das Problem.
Es gab keine öffentlichen Toiletten oder Duschen, man teilte die Spritzen
Frankfurt am Main war lange Zeit die Drogenmetropole Deutschlands. Ende der Achtzigerjahre hatte sich um das Bahnhofsviertel eine der größten offenen Drogenszenen in Europa gebildet, bis zu 1500 Junkies lebten in der Taunusanlage. Auf den Tischen im Park standen Kocher, mit denen sie das Heroin aufkochten. Mit Wasser aus Pfützen. Es gab keine öffentlichen Toiletten oder Duschen, man teilte die Spritzen. Die Folgen: Abszesse, Infektionen, HIV, Hepatitis. 1991 gab es hier 147 Drogentote.
Anfang der Neunziger setzten sich Politiker, Polizei und Sozialarbeiter zusammen und überlegten, wie man die katastrophalen Zustände beenden könnte. "Es war die Geburtsstunde von niedrigschwelligen Hilfen, die bis dahin ein Tabu in Deutschland waren", erklärt Regina Ernst, die Leiterin des Drogenreferats. Es war der Anfang des "Frankfurter Weges", einer liberalen Drogenpolitik, die berühmt wurde: 1994 richtete die Stadt den bundesweit ersten Druckraum ein, wo Süchtige ihren Stoff mit sauberen Spritzen unter Aufsicht konsumieren können. Heute gibt es vier davon in Frankfurt, in manchen darf auch Crack und Heroin geraucht werden.
"Auch die Polizei begann, Drogenabhängige als Kranke, nicht mehr als Kriminelle zu sehen", sagt Ernst. Polizei und Sozialarbeiter arbeiten seither eng zusammen in Frankfurt. Im vergangenen Jahr gab es in Frankfurt 23 Drogentote. In München, einer Stadt mit weniger Drogenabhängigen, gab es in diesem Jahr allein bis Oktober 51 Tote.
Wie eine Stadt mit ihren Drogensüchtigen umgeht, das ist ja auch die Frage, wie eine Stadt generell mit den Menschen umgeht, die am Rande der Gesellschaft stehen. Frankfurt war darin bislang Vorbild. Delegationen aus der ganzen Welt reisten in die Stadt, um sich über den "Frankfurter Weg" zu informieren.
Ist das Ziel nun erreicht, der Weg zu Ende? Der südliche Teil des Viertels mag in den vergangenen zehn Jahren schön und hip geworden sein, die Mieten sind seit 2010 um ein Viertel gestiegen. Drogenabhängige Prostituierte, Männer, die in Hauseingängen Crackpfeifen rauchen und Junkies am Boden sieht man nur noch vor den Druckräumen, genauso wie die Dealer. Aber das Elend hat sich nicht aufgelöst. Es konzentriert sich jetzt nur im Norden, in der Taunusstraße nämlich. Das ist natürlich ein Problem für die Geschäfte dort, denn mit Junkies und Dealern vor der Tür bleiben die Kunden weg. Deswegen soll es auch dort schöner werden.
In den Drogeneinrichtungen befürchtet man nun, dass die Drogenabhängigen ganz aus dem Viertel gedrängt werden. "Sie rotten sich jetzt schon nur noch um die Einrichtungen", sagt Tom Holz, der als Streetworker für die Aidshilfe Frankfurt arbeitet. Wenn man dort kontrolliert werde, " kann man immer sagen, ich muss konsumieren oder zu meinem Sozialarbeiter". Auch Frederic Pietsch von der Polizei, die im Ossip-Programm (Offensive Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention und Prävention) eng mit den Drogenhilfeeinrichtungen zusammenarbeitet, schließt es nicht aus, dass die Drogenszene sich wieder in der Stadt verteilen könnte, wenn der Druck auf sie weiter zunimmt. "Dann wären viele Erfolge des ,Frankfurter Wegs', wie die Senkung der Sterblichkeits- oder Infektionsraten, gefährdet", sagt der Polizist.
Tom Holz zeigt, wo die Folgen der Verdrängung schon zu sehen sind: im Bahnhof. In der B-Ebene, wo es zu den S-Bahnen geht, stehen jetzt wieder Dealer und Abhängige, eine Ebene tiefer liegen zwei junge Männer in einer Ecke neben einer Urinlache, die Spritzen neben den zusammengekrümmten Körpern. "Der Bahnhof war schon mal sauber", sagt Holz.
Die Stadt hält daran fest, dass man niemanden verdrängen will. Nur wo die Junkies dann genau hinsollen, wenn das ganze Viertel zu hip für Abhängige und ihre Dealer sein sollte, bleibt unklar. "Wenn Frankfurt weiter Vorbild in der Drogenpolitik sein will, muss es das Konzept weiterentwickeln", sagt Tom Holz.