Zum Schluss der Urteilsverkündung wendet sich die Vorsitzende Richterin Anja Quendt noch einmal persönlich an den Angeklagten: „Sie bezeichnen sich als guter Vater. Wer ein Kind für solche Zwecke instrumentalisiert, hat so ein Prädikat nicht verdient.“ Mit diesen Worten endet vor dem Landgericht Dresden der zwei Monate währende Prozess um eine ausgebrannte Wohnung, einen Sorgerechtsstreit und den Vorwurf des versuchten Mordes: Chokri A. wird wegen besonders schwerer Brandstiftung und falscher Verdächtigung, die eine Freiheitsberaubung nach sich zog, zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Am Morgen des 16. November 2023 steht mitten in Dresden eine Wohnung in Flammen. Auf dem Balkon im dritten Stock steht der 25-jährige Chokri A. An seiner linken Hand befindet sich eine Handschelle, die mit einem Bettgestell verbunden ist. Verzweifelt ruft er um Hilfe. Er bugsiert das Gestell über die Brüstung, hält sich mit der rechten Hand am Blitzableiter fest und rettet sich auf den darunterliegenden Balkon. Bereits als er sich mit einem Notruf bei der Polizei meldet, berichtet Chokri A., dass es Nancy S., seine ehemalige Freundin und Mutter seiner Tochter, gewesen sei, die ihn mit Pfefferspray und einem Messer angegriffen und schließlich in diese Lage gebracht habe.
Die drogenabhängige und unzuverlässige Frau hatte von vornherein schlechtere Karten
Tatsächlich wird die 19-jährige, wohnungslose und drogenabhängige Frau noch am selben Tag wegen versuchten Mordes verhaftet. Doch zwei Wochen später wird sie wieder freigelassen. Die Staatsanwaltschaft bezweifelt ihre Täterschaft: Das Zeitfenster für den vom Angeklagten geschilderten Tatablauf ist zu klein. Außerdem wurden keine DNA-Spuren gefunden, die Nancy S. belasten. Stattdessen gibt es Zeugen, die sie entlasten. Chokri A. hat zudem ein starkes Motiv für seine Tat: Er will das alleinige Sorgerecht für das gemeinsame Kind.
Prozesse wegen Brandstiftungen seien immer Indizienprozesse, erklärt die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Für die Wahrheitsfindung müsse man viele Umstände, Hinweise und Begebenheiten zusammenpuzzeln. Im konkreten Fall konnten nur zwei Menschen das Feuer gelegt haben, nämlich Chokri A. und dessen Ex-Freundin Nancy S. Die drogenabhängige, kleinkriminelle, lügende und unzuverlässige Frau hatte von vornherein schlechtere Karten. Doch die Taktik des Angeklagten, ihr mit dieser Begründung die Tat in die Schuhe zu schieben, habe vor Gericht nicht verfangen.
Die Richter haben sich die Geschichte des ungleichen Paares genau angesehen. Die beiden lernten sich Ende 2021 kennen. Da war Nancy S. im sechsten Monat schwanger, der Vater des Kindes saß in Haft, sie selbst war abhängig von Crystal Meth. Chokri A. kümmerte sich um sie, stand ihr bei der Geburt ihres Sohnes bei. Nancy S. schaffte es, clean zu werden. Das war eine völlig neue Erfahrung für die junge Frau und deren Angehörige. Sie empfanden Chokri A. als jemanden, der sich ihnen gegenüber respektvoll benimmt. Für Nancy S. war er ihr engster Vertrauter.
Chokri A. verschwieg ihnen nicht nur seine zwei Kinder in Tunesien
Doch Chokri A. verschwieg ihnen einiges, nicht nur seine zwei Kinder in Tunesien. Sondern auch, dass er kein armer Flüchtling ist und aus einer wohlhabenden Familie stammt. Sein Abitur legte er auf einer Privatschule ab und absolvierte eine Ausbildung zum Tischler. Anschließend bereiste er mehr als zwei Dutzend Länder. Im April 2021 begab er sich nach Deutschland, doch schon im Juli 2021 drohte ihm die Abschiebung. Sie sollte erfolgen, wenn er seine Ersatz-Ausweispapiere beschafft hat.
Chokri A. erfuhr, dass er in Deutschland aus familiären Gründen bleiben kann. Dazu gehört auch eine Vaterschaft, die aktiv gelebt wird. Nach Ansicht des Gerichts verfolgte er in seiner Beziehung zu Nancy S. einen klaren Plan. Zwei Monate nach der Geburt ihres Sohnes wurde die junge Frau erneut schwanger, diesmal von Chokri A. Im Dezember 2022 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Nancy S. befand sich zu dieser Zeit in einem Mutter-Kind-Heim, in dem sie noch einige Monate bleiben sollte. Doch die junge Mutter mochte nicht mehr von den Betreuern gegängelt werden. Sie verließ das Heim und ihren Sohn und kehrte ins Drogenmilieu zurück.
Chokri A. kümmerte sich nun allein um seine Tochter und zog mit ihr in eine kleine Wohnung. Es sollte eine Zwischenlösung sein, bis Nancy S. in der Lage wäre, sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Um dennoch ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten, unternahm Chokri A. nach Ansicht der Richter nun einiges, um seine Tochter von ihrer Mutter zu entfremden und Nancy S. beim Jugendamt anzuschwärzen. Als er erfuhr, dass sie dennoch eine eigene Wohnung erhalten sollte, um dort gemeinsam mit ihren beiden Kindern – und unterstützt von einer Familienhelferin – zu leben, fasste er den Entschluss zu seiner Tat.
Dafür spricht auch sein Verhalten nach der Entlassung von Nancy S.: Statt sich vor der angeblichen Mörderin zu fürchten, nahm er die Beziehung zu ihr wieder auf. Als er am 6. Februar 2024 verhaftet wurde, hielt sich Nancy S. in seiner Wohnung auf.