Es war an Dramatik kaum zu überbieten. Die Uhr zeigte 17.20, als die ersten Meldungen vom Tod der beiden Attentäter eintrafen: erschossen in ihrem letzten Versteck in dem kleinen Ort Dammartin-en-Goële nördlich von Paris. Ihre Geisel - frei. Nur Minuten später dann eine weitere Nachricht. Auch die Geiselnahme im Osten von Paris, die seit dem Nachmittag die Anspannung im Lande fast zum Zerreißen gebracht hatte, ist zu Ende. Der Gewalttäter tot- wie auch vier der Geiseln.
Schon Stunden zuvor war klar geworden, dass in dem idyllischen Schlafstädtchen, ganz in der Nähe des Pariser Flughafens Charles-de-Gaulle, das Drama ein Ende finden dürfte, das ganz Frankreich seit Mittwoch im Griff hatte. Ein schreckliches Ende - nicht zuletzt deshalb, weil nicht weit entfernt, am östlichen Stadtrand von Paris, ein weiterer Attentäter sein grausames Werk begonnen hatte. Mit zwei Sturmgewehren bewaffnet, nahm er in einem koscheren Supermarkt gleich mehrere Menschen als Geiseln. Der Täter hatte, wie sich bald herausstellte, enge Verbindungen zu den beiden Brüdern, die am Mittwochmorgen mitten in Paris die Redaktion von Charlie Hebdo heimgesucht hatten. Die Schreckensstarre, die Frankreich seit diesem Mordmorgen erfasst hatte, rührte von der Gewissheit, dass es sich bei den Attentätern um kaltblütige Killer handelte, von denen zumindest einer in den Terrorcamps von al-Qaida in Jemen ausgebildet worden war. Sie hatten um 11.30 Uhr am Mittwochvormittag die Zeichner und Redakteure der Satirezeitschrift erschossen, und sie kannten auch keine Gnade für einen am Boden liegenden Polizisten. Das Massaker dauerte nur fünf Minuten, zwölf Menschen waren am Ende tot und elf zum Teil schwer verletzt.
Keine Skrupel
Auch auf ihrer Flucht kennen die Täter keine Skrupel. Noch in Paris, auf dem Weg zur Porte de Pantin im Nordosten der Stadt, zwingen sie einen Fahrer, ihnen seinen Wagen zu überlassen. Um 23 Uhr am Mittwochabend wächst der Verdacht, dass die Terroristen sich, 150 Kilometer entfernt, bei Reims verkrochen haben könnten. Spezialeinheiten finden sie aber nicht.
Gegen 9.30 Uhr am Donnerstagmorgen eine weitere Terrortat: Eine Polizeibeamtin kommt bei einer Schießerei in Montrouge im Süden von Paris ums Leben. Einer ihrer Kollegen wird schwer verletzt. Noch weiß keiner, dass der Täter mit den beiden Brüdern Kouachi in Verbindung steht. Die werden zwei Stunden später im Nordosten des Landes gesehen, in Aisne. Eine beispiellose Jagd beginnt. 88 000 Polizisten und Soldaten sind im Einsatz.
In Nordfrankreich zieht sich die Polizei gegen 22.30 Uhr aus dem Waldstück bei Longpont westlich von Reims zurück. Die Suche aber wird fortgesetzt. Mindestens fünf Hubschrauber mit Wärmebildkameras sind im Einsatz. Vermutungen, die Täter könnten zu Fuß flüchten, bestätigen sich nicht. Sie sind weiter mit ihrem Renault Clio unterwegs. Dann ist scheinbar Ruhe für die Nacht.
Die Attentäter zwingen eine Frau auf den Rücksitz
Bis zu dem Moment, zu dem rund einen Kilometer vom Dorf Montagny-Sainte-Félicité entfernt die Täter auf einer Landstraße einen Peugeot 206 stoppen. Es ist mittlerweile Freitag, kurz nach acht Uhr morgens. Die beiden zwingen die Fahrerin auf den Rücksitz. Nach ein paar Kilometern lassen sie die geschockte Frau aussteigen. Sie wird von Psychologen betreut, berichtet Le Figaro.
Um 9.20 Uhr werden dann Schüsse an der Route Nationale 2 Richtung Paris gemeldet. Die beiden Hauptverdächtigen würden verfolgt, teilt die Polizei mit. Es gibt keine Verletzten. Hubschrauber kreisen nun über dem Ort Dammartin-en-Goële, gerade einmal zehn Kilometer Luftlinie von den Startbahnen des Flughafens Paris-Charles-de- Gaulle entfernt. Zwei maskierte Männer haben offenbar im Gewerbegebiet des Ortes Geiseln genommen. Zuerst heißt es, die Täter seien in eine Druckerei eingedrungen, dann ist von einem Aldi-Lager die Rede. Später bestätigt sich: Die Männer haben sich im Unternehmen "Creation Tendance Découverte" verschanzt.
Die Firma CTD stellt unter anderem Werbe-Schilder und Messestände für Unternehmen her. Im Gebäude sollen die Brüder ihre Geiseln genommen haben. Wie viele ist zunächst nicht klar. Ein Mitarbeiter von CTD, der der Geiselnahme entgehen konnte, bestätigt dem Figaro, die beiden bewaffneten Männer vor der Firma gesehen zu haben.
Um zehn Uhr meldet sich Bernard Boucault, der Polizeipräfekt von Paris: "Wir stehen kurz vor dem Epilog."
Dammartin-en-Goële ist zu diesem Zeitpunkt abgeriegelt. Im Kurznachrichtendienst Twitter kursieren Fotos vom Gewerbegebiet. Die Bilder zeigen Polizisten in voller Ausrüstung auf einem Parkplatz. Die Grundschule Henri Dunant und ein Kindergarten befinden sich nur rund 300 Meter vom Ort der Geiselnahme entfernt. Kinder und Lehrer dürfen die Gebäude nicht verlassen. Von innen werden die Fenster mit Decken verhängt. Im Kindergarten von Eaubonne, auch nicht weit entfernt, dürfen die Kinder ebenfalls nicht ins Freie.
Eine Erzieherin berichtet France Inter, sie lasse die Kinder Bilder malen, um sie zu beruhigen. Madame Quer, Chefin der Apotheke Quer, rund 150 Meter entfernt vom Ort der Geiselnahme, erzählt Le Monde am Telefon: "Wir haben die Jalousien heruntergelassen und sind oben. Wir kommen nicht runter, es sei denn, Kunden kommen. Wir haben keine Schüsse gehört, aber Helikopter. Wir versuchen, nicht kopflos zu werden. Wir verfolgen alles, was passiert, über das Internet. Aber das geht einem schon durch Mark und Bein."
Die Chefin des Carrefour-Supermarktes erzählt: "In unserem Laden sind fünf Kunden. Ich habe sie angewiesen, das Geschäft nicht zu verlassen. Ich mache regelmäßig Durchsagen, um alle zu beruhigen."
Zwei Flüge der Air France müssen umgeleitet werden
Eine halbe Stunde später, um 10.30 Uhr, wird die nördliche Landebahn von Charles de Gaulle aus Sicherheitsgründen gesperrt. Zwei Flüge der Air France (AF 007 aus New York und AF 1695 aus Budapest) müssen laut Flight-Radar umgelenkt werden.
Sie bleiben nicht die einzigen, es kommt zu Verzögerungen im Flugplan.
Um 10.58 Uhr teilt Pascal Gugglielmi, Sprecher der Krankenhauses Sud Francilien in Corbeil-Essonnes, mit: "Wir sowie die Krankenhäuser von Meaux und Marne-la-Vallée wurden von der Polizei in Alarmbereitschaft versetzt." Die Polizei rechnet also mit dem Schlimmsten.
Zur selben Zeit treffen die überlebenden Mitarbeiter von Charlie Hebdo - etwa 30 - in den Redaktionsräumen von Libération ein. Richard Malka, Anwalt und Sprecher der Satirezeitschrift, sagt: "So wenig Kraft uns auch bleibt, wir werden sie in die acht Seiten der nächsten Ausgabe legen." Premierminister Manuel Valls besucht die Redaktion.
In Dammartin-en-Goële bittet die Polizei alle Medienleute, keine Fotos der Operation mehr zu twittern oder zu posten - um die Geiselnehmer nicht zu warnen. Es werde versucht, Verhandlungen mit den Brüdern aufzunehmen, sagt Pierre-Henry Brandet, Sprecher des Innenministers. "Priorität ist, einen Dialog herzustellen. Das kann dauern, vielleicht Stunden."
In der Hauptstadt überschlagen sich jetzt die Nachrichten. Die Polizei bestätigt, dass der Mann, der am Donnerstag in Montrouge im Pariser Süden eine Polizistin erschossen hat, eine Verbindung zu den Brüdern Kaouchi hat. Präsident François Hollande, Premierminister Manuel Valls und Innenminister Bernard Cazeneuve tagen mit dem Krisenstab im Innenministerium am Place Beauvau in Paris, als eine neue Schreckensnachricht in die Sitzung platzt.
An der Porte de Vincennes im Osten von Paris sind Schüsse gefallen. Gegen 13 Uhr betritt dort ein Mann einen koscheren Supermarkt. "Ihr wisst, wer ich bin", soll er gerufen haben. "Alle sind kopflos, sitzen unter den Tischen", schreibt ein Augenzeuge auf Twitter, offenbar aus einem nahen Restaurant.
"Zurück, zurück!", hört man Polizisten brüllen
Ein Journalist von France 2 filmt Spezialeinheiten der Polizei, die Schritt für Schritt an den Tatort vorrücken, hinter Schutzschilde geduckt. "Zurück, zurück!", hört man sie brüllen - der Reporter kauert sich hinter eine Mauer. Großräumig werden Straßen in der Gegend abgesperrt, mehrere Metrolinien sind unterbrochen, die Station Porte de Vincennes ist geschlossen.
Um 14.30 Uhr veröffentlicht die Polizei einen Fahndungsaufruf. Gesucht werden Hayat Boumediene, eine 26-jährige Frau, und Amedy Coulibaly, 32 Jahre alt. Er soll die Polizistin am Donnerstag in Montrouge getötet haben. Es gibt erste Hinweise, dass er auch der Geiselnehmer im Supermarkt von Vincennes ist. Coulibaly saß wegen Terror-Vorwürfen bereits in Haft. Hayat Boumediene ist nach Informationen von Le Monde seine Freundin. Die beiden sollen zur selben Islamistengruppe gehören wie Chérif Kouachi.
Geiselnehmer im Supermarkt in Paris:Wer war Amedy Coulibaly?
"Ihr Charlie Hebdo, ich die Polizisten": Die Brüder, die die Redaktion des Satire-Magazins stürmten, und der Supermarkt-Geiselnehmer haben sich abgesprochen. Amedy Coulibaly ist kein Unbekannter, doch unklar ist, welche Rolle seine Freundin spielte. Sie ist flüchtig.
Die Polizei sucht Boumediene im Zusammenhang mit dem Mord an der Polizistin in Montrouge.
Coulibaly soll eine Pistole und zwei Gewehre bei sich tragen
Auch Freitagabend wird sie noch flüchtig sein. Im Supermarkt werden unterdessen mindestens fünf Menschen vermutet. Meldungen von Toten lässt die Polizei aber zunächst dementieren. Die Behörden melden nun, es bestehe "nahezu Sicherheit", dass Coulibaly der Geiselnehmer im Supermarkt ist. Er soll eine Pistole Kaliber 9 Millimeter und zwei Gewehre bei sich tragen. Als Täter der Schießerei von Montrouge hat ihn die Polizei eindeutig identifiziert: An einer am Tatort zurückgelassenen Sturmhaube wurde seine DNA sichergestellt.
Um kurz vor 15 Uhr lässt die Polizei den Trocadéro im 16. Arrondissement in Paris räumen - einen bei Touristen beliebten Platz. Von dort hat man einen herrlichen Blick auf den Eiffelturm. Nach einer halben Stunde ist der Spuk allerdings wieder vorbei.
Fehlalarm. Um 17 Uhr sind in Dammartin-en-Goële plötzlich laute Detonationen zu hören. Spezialkräfte der Gendarmerie Nationale stürmen. Rauch steigt auf. Ein Helikopter der Polizei landet. Wie der Rauch lastet dann minutenlang Stille auf dem Haus.
Beinahe zeitgleich beginnt auch der Zugriff in Vincennes. Der Supermarkt wird gestürmt, laute Explosionen sind zu hören. Dann geht alles blitzschnell. Wenige Minuten später ist der Geiselnehmer tot, doch auch vier Geiseln müssen sterben.
Polizisten begleiten Überlebende nach draußen.
Die Brüder Kouachi sind tot
Nun kommen die Nachrichten Schlag auf Schlag. Die Gendarmerie meldet, dass die Brüder Kouachi tot sind. Die AFP berichtet, die beiden Verdächtigen seien - Schüsse aus ihren Kalaschnikows feuernd - aus dem Gebäude gerannt. Dies habe "zu ihrer sofortigen Neutralisation" geführt.
Am Abend wird klar, dass die beiden Brüder Kouachi womöglich gar nicht wussten, dass sie die ganze Zeit über eine Geisel hatten. Lilian, ein 27 Jahre alter Grafiker, konnte sich in einem Zimmer im Gebäude verstecken - und harrte dort mehr als sieben Stunden lang unbemerkt aus. Zwischen 9 und 11 Uhr am Morgen habe die Familie verzweifelt versucht, ihn zu erreichen, berichtet der Figaro. Nach bangen Stunden erhielt der Vater endlich eine SMS seines Sohnes: "Ich habe mich in der ersten Etage versteckt. Ruft die Polizei an."