Drama von Nachterstedt:Wenn Gewissheiten ins Rutschen kommen

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Die Erde in Nachterstedt war löchrig wie ein Schweizer Käse. Geologen glauben, dass sich eine unterirdische Wasserblase in den See ergossen hat.

C. Kohl, Nachterstedt

Einsam steht das zerrissene Haus am Abgrund. Wie eine zurückgebliebene Theaterkulisse scheint es den Naturgewalten zu trotzen, die in dem Örtchen Nachterstedt südwestlich von Magdeburg am Wochenende rund zwei Millionen Kubikmeter Erdmassen ins Rutschen und damit eine komplette Uferlandschaft zum Einsturz gebracht haben. Die Wucht des Bebens hatte drei Menschen in den Tod gerissen. Seither wird mit Nachtsichtgeräten und Wärmebildkameras versucht, die Opfer in dem riesigen Krater aus Schlamm und Morast zu orten, der sich am Fuß der Häuserruine aufgetan hat. Unterdessen forschen die Experten fieberhaft nach möglichen Ursachen für den schweren Erdrutsch.

Das halbe Haus ist bereits den Hang runtergerutscht. Experten befürchten, dass das Erdreich noch einmal rutschen könnte. (Foto: Foto: dpa)

So werden vergilbte, aus den Archiven herbeigeholte Bergwerkskarten studiert und Wassermesspegel überprüft, alte Bodenlöcher werden inspiziert und neu entdeckte Risse im Erdreich ausgemessen. "Wir stehen insgesamt vor einem großen Rätsel", sagt der Landrat des Kreises, Ulrich Gerstner, der die Region um den Concordia-See am Nordrand des Harzes zum Katastrophengebiet erklärt hat.

Inoffiziell aber gibt es unter den Fachleuten, die sich derzeit in Nachterstedt aufhalten, bereits eine Theorie, wie es zu dem unglaublichen Erdrutsch an der gefluteten einstigen Tagebaugrube kommen konnte. So berichtet ein Experte, dass sich womöglich eine unterirdische Grundwasserblase in den See ergossen habe. Durch die Kraft der einströmenden Fluten könnte sich unter der Wasseroberfläche des Sees eine Flutwelle gebildet haben, vergleichbar mit einem kleinen Tsunami. Und die Wucht der Wellen habe dann möglicherweise die Böschung zum Einsturz gebracht, die aus sandiger, teils aufgeschütteter Erde bestand.

Ursache möglicherweise ein Grundwassereinbruch

"Da ist noch viel zu untersuchen", sagt Gerhard Jost vom Landesamt für Geologie und Bergwesen in Stassfurt. Doch völlig abwegig sei die Theorie nicht. Tatsächlich deuten eine Reihe von Beobachtungen auf einen möglichen Grundwassereinbruch als Unglücksursache, wie ein anderer Experte bestätigt: Kurz vor dem Absturz der Böschung seien "ungewöhnlich starke Wasserströme" in dem See bemerkt worden. Auch habe das Epizentrum der Erdbewegungen nicht etwa an Land gelegen, sondern vermutlich am Grunde des Concordia-Sees. Und schließlich sind da noch die Wasserpegel: Mehrere hundert Mess-Stellen säumen das Seeufer, einstmals, als der Braunkohletagebau noch aktiv betrieben wurde, hatte man hier allerorten das Grundwasser abgepumpt, um an die Kohlelager heranzukommen. Seitdem die Braunkohlegrube Anfang der 90er Jahre aufgegeben wurde und man begonnen hatte, das riesige Restloch zu fluten, dienen die Messstände nun dazu, den Grundwasserdruck zu prüfen.

Eben an diesen Messständen gab es in den letzten Tagen recht auffällige Veränderungen, wie auch Landrat Gerstner bestätigt. So hätten sich just an den Pegeln, die in den Gebieten stehen, wo sich der Erdrutsch zugetragen hat, "merkliche Rückgänge der Wasserstände gezeigt", berichtet der Sozialdemokrat. Nach Expertenauffassung deute dies daraufhin, dass sich hier der Grundwasserspiegel gesenkt habe "und insofern eine Entspannung eingetreten ist".

Die Risse werden ständig größer

Ein unterirdischer Druckabbau, der womöglich durch das Platzen einer Grundwasserblase ausgelöst wurde? Während die unterirdischen Messungen auf eine Entladung des Wasserdrucks deuten, haben sich im Boden nahe der abgestürzten Häuser tiefe, zehn bis 15 Meter lange Risse gebildet, die offenbar ständig größer werden. "Wenn sie sich mit Regen füllen, könnten neue Böschungsteile abstürzen", fürchtet Uwe Steinhuber, der Sprecher der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungs GmbH (LMVB).

Die Theorie einer möglichen Unglücksursache durch einen Grundwassereinbruch will Steinhuber nicht bestätigen - doch er dementiert sie auch nicht. Die LMVB hat noch bis zum Jahr 2012 die Oberaufsicht über das einstige Bergbaugebiet bei Nachterstedt, das nach den Planungen der Regionalentwickler einmal ein Seglerparadies und Touristenzentrum werden sollte. Um 1830 war hier erstmals nach Kohle gegraben worden, zunächst in unterirdischen Stollen, später im offenen Tagebau. Weil besonders große Kohlevorkommen unter dem alten Ort Nachterstedt lagen, hatte man in den 20er Jahren begonnen, das Dorf umzusiedeln. Gegen Mitte der 30er Jahre war dann die kleine Siedlung mit den roten Ziegeldächern entstanden, deren Randhäuser jetzt in die Tiefe stürzten.

Kohleabbau durchlöcherte das Erdreich wie einen Schweizer Käse

An die 4000 ehemalige Kohlegruben mit 800 Schächten gibt es in Sachsen-Anhalt. In dem Land, in dem über mehrere Jahrhunderte wertvolle Kohle und Erzvorkommen abgebaut wurden, ist das Erdreich im Untergrund vielerorts so durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Die Mitarbeiter der LMVB, einer Nachfolgegesellschaft ehemaliger Kohleabbauunternehmen, mühen sich nun, mögliche Gefahren einzudämmen, die von den alten Stollen und Erdlöchern ausgehen können. So werden einstige Gänge erkundet und teils mit Filterasche verfüllt, um so den Untergrund zu stabilisieren.

Auch am Concordia-See sind bereits seit längerer Zeit Verfüllarbeiten im Gang. Inwieweit sich Grundwasser aus Erdschichten, die unter den alten Stollen liegen, unbemerkt einen Weg durch die verlassenen Gänge gebahnt hatte, lässt sich wohl nur durch gründliche Untersuchungen erkunden. Aus Sicht der Experten aber ist klar, dass das Wasser stets in Richtung der offenen Tagbaugruben fließt - eben in Richtung See.

© SZ vom 21.07.2009/abis - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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