Drama beim Bestatter:Totgeglaubte lebte noch

Särge

Eine Urangst des Menschen: lebendig begraben zu werden.

(Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

In Gelsenkirchen wollten die Mitarbeiter einer Bestattungsfirma gerade Feierabend machen. Doch dann hörten sie Schreie - aus ihrem Kühlraum.

Von Roman Deininger, München/Gelsenkirchen

Es war eine Frage von Minuten. Die beiden Bestattungshelfer wollten Feierabend machen, ab ins Wochenende, es war 21 Uhr am Samstagabend. Sie hatten den Leichnam - oder zumindest das, was auch sie für einen Leichnam halten mussten - auf einer Trage festgeschnallt in den Kühlraum gebracht, sie hatten ihn in einen Leichensack gehüllt und nur den Kopf freigelassen, aus hygienischen Gründen. Eine alte Dame lag da vor ihnen, mit 92 Jahren in einem Pflegeheim gestorben. Für Bestatter ist das: Routine. Die beiden schlossen die schwere Tür des Kühlraums. Bis Montagmorgen würde sie im Normalfall niemand mehr öffnen.

Draußen erledigten die zwei Männer noch schnell den Papierkram. Und als sie fast schon fertig waren, hörte einer von ihnen das Schreien, ganz dumpf nur. Du musst dich täuschen, sagte der andere. Aber sie schauten doch lieber nach. "Eine Minute später", sagt Stefan Menge, "und niemand hätte die Schreie gehört." Er sei Bestatter in der vierten Generation, erzählt Menge, er erzählt das nicht ohne Stolz. Das Bestattungsunternehmen Bergermann in Gelsenkirchen-Buer, das er leitet, gibt es seit 1873. "Aber so etwas", sagt Menge, "hatten wir noch nie." Auch Kollegen hätten einen solchen Fall noch nicht erlebt.

Menges Mitarbeiter öffneten also noch einmal die schwere Tür zum Kühlraum - und dort blickten sie in die weit aufgerissenen Augen der alten Dame, die ohne jeden Zweifel am Leben war, auch wenn ihr Totenschein, ausgestellt knapp fünf Stunden zuvor, etwas anderes behauptete. Es war eine Szene wie aus einem Horrorfilm.

"Meine Mitarbeiter haben da jetzt einen Schock in den Knochen", sagt Menge am Montag danach. "Die Überführer fahren Hunderte Verstorbene im Jahr. Der Gedanke, ob da jemand vielleicht noch lebt, war früher nie da." Künftig, sagt Menge, werde dieser Gedanke sie alle begleiten.

Und angenehm ist diese Aussicht nicht, es geht schließlich um eine Urangst des Menschen, die Edgar Allan Poe einst in seiner wahrhaft schauerlichen Erzählung "Lebendig begraben" erkundet hat. "Die grausigen Legionen der Grabesschrecken sind keine Hirngespinste", schrieb Poe, und ein Blick ins Zeitungsarchiv bestätigt die Gültigkeit dieser These auch im 21. Jahrhundert. Alle paar Jahre verzeichnet die Chronik irgendwo eine Wiederauferstehung im allerletzten Moment, zuletzt strampelte sich 2014 im US-Bundesstaat Mississippi ein gewisser Walter Williams, 78, aus dem Leichensack zurück ins Leben.

Im Grunde, sagt Menge, dürfte es so etwas nicht geben, "die moderne Medizin hat alle Mittel, Irrtümer bei der Leichenschau auszuschließen". Im Mittelalter war man noch nicht so weit, da hatte man nicht ohne Grund Notglöckchen im Sarg. Kein Puls, keine Atmung - ehedem reichte das, um den Tod festzustellen. "Unsichere Todeszeichen" nennt man das heute. Für die Ausstellung des Totenscheins muss es "sichere Todeszeichen" geben: Totenflecke, Leichenstarre. Im Fall der alten Dame muss etwas sehr schiefgelaufen sein.

Der Geschichte von der Wiederauferstehung in Gelsenkirchen-Buer ist nicht mal ein gutes Ende vergönnt: Am Montagnachmittag ist die alte Dame in einem Krankenhaus wirklich gestorben. Die Staatsanwaltsschaft Essen ermittelt nun, ob es Versäumnisse bei der Leichenschau durch den Arzt gab - und ob sein Fehlurteil den Tod der Totgeglaubten sogar schneller herbeigeführt hat.

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