Polizeieinsatz in Dortmund:Große Zweifel an der Verhältnismäßigkeit

Lesezeit: 3 Min.

In Dortmund wurde am 8. August ein 16-Jähriger durch mehrere Schüsse eines Polizisten tödlich verletzt. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Nach dem Tod eines 16-Jährigen bei einem Polizeieinsatz in Dortmund Anfang August, ermittelt die Staatsanwaltschaft nun gegen vier weitere Polizisten. Aufklärung könnte ein Telefonmitschnitt bringen.

Von Christian Wernicke

Bisher sind es nur Indizien. Klare Beweise, eindeutige Antworten gar, warum Mouhamed D. in der Dortmunder Nordstadt am späten Nachmittag des 8. August 2022 von vier Kugeln aus einer Maschinenpistole der Polizei getötet wurde, gibt es nicht. Aber wenn jetzt Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (Spitzname: "der schwarze Sheriff"), der oberste Dienstherr von 40 500 Polizisten, einen Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft Dortmund veröffentlicht und einräumen muss, diese Erkenntnisse "schaffen eine neue Lage" - dann ist auch dies ein Indiz. Und ein weiteres Anzeichen für den Verdacht, dass allerlei schief gelaufen sein muss bei dem Einsatz von zwölf Beamten gegen einen einzelnen, offenbar verwirrten und suizidalen 16-jährigen Jungen aus Senegal.

Zwei Dinge haben Reul alarmiert. Inzwischen nämlich ermittelt Carsten Dombert, der Leitende Oberstaatsanwalt in Dortmund, nicht mehr nur gegen einen, sondern gegen gleich fünf NRW-Polizisten. Aufgeschreckt hat den CDU-Politiker auch die Tatsache, dass sich der Tatverdacht gegen den Todesschützen - einen 29-jährigen Polizeibeamten - verschärfen könnte: Im Zwischenbericht, den Reul eiligst an den NRW-Landtag weiterleitete, lautet der Vorwurf nicht mehr nur "Körperverletzung mit Todesfolge". Nun steht da, der Polizist sei "des Totschlags verdächtig."

Reuls zweiter Schrecken könnte sich als unbegründet herausstellen. Dass er auch dem Verdacht auf Totschlag nachgehe, so sagt Oberstaatsanwalt Dombert im Gespräch mit der SZ, sei "kein Hinweis auf eine verdichtete Beweislage - sondern einfach juristischer Standard im Ermittlungsverfahren." Totschlag stand von Anfang an als Möglichkeit im Raum - "und damals wie heute gilt die Unschuldsvermutung."

Warum war eine Tragödie die Ultima Ratio?

Brisanter ist, dass - neben dem Schützen - nun vier weitere Beamte als Beschuldigte gelten. Damit rückt die eine, große Frage in den Fokus, die schon einen Tag nach den Todesschüssen vom 8. August Hunderte Demonstranten vor die Polizeiwache in der Dortmunder Nordstadt trieb: Wieso können zwölf Polizisten einen Jugendlichen, der in einer Ecke kauert und sich eine 20 Zentimeter lange Messerklinge vor den Bauch hält, am Ende nur mit Schüssen aus einer Maschinenpistole stoppen? Warum war eine Tragödie die Ultima Ratio?

Als Jurist formuliert Dombert dieselbe Frage anders: War der Einsatz staatlicher Gewalt verhältnismäßig, und: "Stimmte die Zweck-Mittel-Relation?" Den Oberstaatsanwalt plagen da Zweifel: "Das sehen wir nicht gewährleistet." Jedenfalls nicht nach jetzigem Stand der Ermittlungen.

Also ermittelt die Staatsanwaltschaft nun gegen jene junge Polizistin, die den jungen Geflüchteten mit Reizgas besprühte (und so aus seiner Lethargie aufschreckte); also laufen nun Ermittlungen gegen eine andere Polizistin und ihren Kollegen, die gemeinsam (schrecklich erfolglos) zwei Mal Elektro-Taser gegen den halbnackten Jungen einsetzten. Alle drei Beamten stehen im Verdacht der gefährlichen Körperverletzung im Amt. Der vierte Beschuldigte ist der Einsatzleiter, der das polizeiliche Vorgehen offenbar geplant hatte - er sieht sich des Vorwurfs der "Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt" ausgesetzt. Alle fünf Beschuldigten nutzen inzwischen ihr Schweigerecht.

Angesprochen wurde der Senegalese auf Deutsch und Spanisch

Es gab Fehler. Oder Mängel. "Den Beamten war bekannt, dass der junge Mann nicht unsere Sprache spricht", bestätigt Dombert der SZ. Zudem hätten die Beamten beim Eintreffen am Tatort "eine statische Lage" vorgefunden: Der junge D. war verwirrt, eventuell suizidal - aber nicht aggressiv zu den Polizisten. Dennoch wurde kein geschultes Verhandlungsteam gerufen, dennoch fehlte (bei einem Senegalesen naheliegend) ein Dolmetscher mit Französischkenntnissen. Angesprochen wurde D. hingegen auf Deutsch und Spanisch. Und offenbar forderte kein Polizist den Jungen vor Beginn der Einsatz-Eskalation auf, sein Messer aus der Hand zu legen. Das habe, so Dombert zur SZ, während aller Zeugenvernehmungen jedenfalls "niemand so geschildert." Stattdessen setzte die Polizei darauf, dass D. durch Reizgas dazu genötigt werden könnte, das Messer fallen zu lassen, um sich seine Augen zu reiben.

Die Staatsanwaltschaft will nun wissen, ob dieses Vorgehen polizeilicher Standard ist: Das NRW-Innenministerium soll deshalb "sämtliche Dienstvorschriften" zum Einsatz von Reizgas, Tasern und Maschinenpistolen übermitteln. Und erläutern, wie Polizisten für den Umgang mit psychisch kranken oder suizidgefährdeten Menschen geschult werden. Außerdem hofft Oberstaatsanwalt Dombert auf die Expertise des Bundeskriminalamts: Es gibt nämlich einen Mitschnitt des Telefonats zwischen der Polizei-Leitstelle und jenem Betreuer von Mouhamed D., der die Polizei alarmiert hatte. Mehr als 20 Minuten lang, mit vielen Hintergrundgeräuschen - vom Einsatzbeginn bis zu den tödlichen Schüssen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: