Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Zettels Albtraum

Einer Studie zufolge kritzeln die Bundesbürger lieber auf Papier als in Notiz-Apps. Ein Internetanbieter sieht irres Wachstumspotenzial. Der private Zettelkasten besagt etwas anderes.

Von Martin Zips

Ausnahmsweise sei an dieser Stelle ein Einblick in den privaten Zettelkasten gewährt: Das rot-weiße Tagebuch, welches im Alter zwischen 13 und 16 Jahren geführt wurde, eine ungeheuer spannende Zeit übrigens, existiert noch. Leider, möchte man hinzufügen, denn die Ansammlung literarisch nachlässig formulierter Sehnsüchte, Ausbrüche und Verletzungen sollte man vielleicht doch lieber ins Altpapier geben (geschreddert natürlich, damit sie nicht im nächsten Roman des altpapiersammelnden Schriftstellers Arno Geiger auftauchen).

Ganz übel sieht es im privaten Zettelkasten mit Liebesfaxen aus. Die waren in den 1990er-Jahren mal der allerneueste Schrei. Ihre Verfasserinnen und Verfasser mussten nicht tagelang auf Antwort warten und benötigten auch keine teuren Briefmarken, um sich morgens, mittags und abends permanent ihrer gegenseitigen Zuneigung zu versichern. Wer das Thermopapier allerdings nicht rechtzeitig konservierte, zum Beispiel mithilfe eines Tintenstrahldruckers oder eines Fotokopierers, der erkennt heute von der alten Liebe so gut wie gar nichts mehr. Verblichen ist sie.

Wozu solche Gedanken? Nun, ein deutsches Webportal hat gerade eine Umfrage veröffentlicht. Kernaussage: 72 Prozent der Bundesbürger versuchen, möglichst papierlos zu leben (wegen Bequemlichkeit, Umweltschutz und so), mehr als die Hälfte der Deutschen aber bekritzelt weiterhin irgendwelche Zettel, statt in eine moderne App zu tippen. Aus unternehmerischer Sicht gibt es hier also ein immenses Wachstumspotenzial!

Jetzt ist das mit der unternehmerischen Sicht natürlich nur die eine Seite. Wenn schon vom Thermo-Fax nach wenigen Jahren nichts mehr übrig bleibt, wie wird es sich dann erst mit all dem digitalen Zeug verhalten, was man im Laufe seines Lebens so angesammelt hat? Mit all den Textnachrichten, Bildern, Audios und Videos, die aus Gründen der Nachlässigkeit bis zuletzt ungesichert blieben.

Mag schon sein, dass bei Tagebüchern, Einkaufszetteln, Liebesbriefen und Post-its noch "ein großes Potenzial für die weitere Digitalisierung" existiert, wie in der (natürlich papierlosen) Presseerklärung des Internetdienstes zu lesen ist. Auch, dass das Papier bald der Vergangenheit angehört und dem Display weiterhin die Zukunft.

Andererseits: Im privaten Zettelkasten finden sich auch noch die 104 Jahre alten Liebesbriefe, die einst der Großvater der Großmutter geschrieben hat ("Ich möchte Dein hübsches Goscherl küssen!"). Und zwar mit Tinte auf Büttenpapier. Inklusive getrockneter Birkenblätter als Liebesgabe im Kuvert. Okay, cyberpoetisch mag das nicht gerade der totale Knaller sein, und in seiner recht direkten Art wieder ungeheuer kompromittierend für die Generation der Großväter. Dennoch haben die handgeschriebenen Briefe am Ende vielleicht sogar das größere Wachstumspotenzial. Nicht unbedingt aus unternehmerischer Sicht, sondern archäologisch, ethnologisch, genealogisch. Denn Papier spricht selbst dann noch, wenn die Menschen schweigen. Zumindest wenn es kein Thermopapier ist.

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