Freilassung von Dieter Degowski:Ein deutsches Trauma

Das Gladbecker Geiseldrama

Der Wagen mit den Geiselnehmern wird am 18.08.1988 in Köln von Journalisten umringt. Rechts neben der Fahrertür steht der Journalist Udo Röbel.

(Foto: dpa)

Einer der beiden Gladbecker Geiselnehmer von 1988 ist frei. Die Tat hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt.

Von Lars Langenau

Ein gekaperter Linienbus in einer schwülen Sommernacht. Die Leiche des 15-jährigen Emanuele de Georgi, der aus dem Bus getragen wird. Die verängstigte 18-jähige Silke Bischoff mit einer Pistole am Hals. Zwei durchgeschwitzte, tätowierte Verbrecher, die schwer bewaffnet Interviews geben, die großspurig auftreten, während direkt neben ihnen ihre Geiseln um ihr Leben zittern. Ein Reporter namens Udo Röbel, der zu ihnen ins Fluchtauto steigt und den Weg zeigt. Eine völlig unfähige Polizei, die den sensationsgierigen Journalisten die Verhandlungen überlässt. Am Ende ein mit 60 Schüssen durchsiebtes Fluchtauto auf der Autobahn bei Bad Honnef.

All das sind Bilder des Grauens, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt haben. Es sind die Bilder des Gladbecker Geiseldramas, die auf jüngere Menschen so fern und verstörend wirken müssen wie ein "Tatort" aus einer anderen Zeit. Doch im August 1988 sind sie real. Erinnerungen an diesen Sündenfall des deutschen Journalismus und an das Versagen der Institutionen werden wach, als am Freitag bekannt wird, dass Dieter Degowski, einer der beiden Entführer, nach fast 30 Jahren auf freien Fuß ist.

Am 16. August 1988, um 7.55 Uhr, überfällt Degowski, damals 32, mit seinem Komplizen Hans-Jürgen Rösner, damals 31, in Gladbeck-Renfort eine Filiale der Deutschen Bank. Sie nehmen den Kassierer und eine Kundenberaterin als Geiseln, fordern einen Fluchtwagen und Lösegeld. Um 14 Uhr wiederholen die Gangster ihre Forderungen in einem Rundfunk-Interview. Um 17.32 Uhr wird ihrer Drohung entsprochen, sie erhalten umgerechnet etwa 200 000 Euro.

Um 21.47 Uhr verlassen die Männer mit zwei Geiseln und dem Geld die Bank. Eine Irrfahrt in Richtung Hagen beginnt, bei der sie mehrfach die Fluchtautos wechseln. Am Mittwoch, 17. August, steigt um 0:55 Uhr Rösners Freundin zu. Um acht Uhr frühstücken sie gemeinsam in Hagen in einem Café und erreichen nach einer Irrfahrt später Bremen.

Kurz nach 19 Uhr kapern sie einen vollbesetzten Linienbus und geben einer Journalisten-Meute des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und von Lokalzeitungen unverdrossen Interviews. Gegen 22 Uhr verlässt der Bus Bremen.

Gewagte Rammaktion mitten auf der Autobahn

An der Raststätte Grundbergsee an der A1 zwischen Bremen und Hamburg spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. Zunächst werden die zwei Geiseln, die sich seit dem Morgen des vorherigen Tages in der Gewalt von Rösner und Degowski befinden, gegen Journalisten ausgetauscht. Doch dann wird plötzlich Rösners Freundin von der Polizei festgehalten. Degowski erschießt aus Wut den 15-jährigen Italiener, der mit seiner kleinen Schwester im Bus war. Rösner Freundin kommt frei. Etwa eine halbe Stunde später macht sich der Bus Richtung Niederlande auf, dabei verunglückt ein Polizeiwagen, der den Bus verfolgt. Ein Beamter stirbt.

Donnerstag, in der Nacht des 18. August, erreichen die Geiselnehmer die Grenze der Niederlande, um 5:30 Uhr werden die meisten Geiseln freigelassen. Um 6:38 Uhr tauschen die Täter den Bus gegen einen BMW und fahren mit zwei Geiseln zurück nach Deutschland. Um 10:53 Uhr erreichen sie die Kölner Innenstadt.

Hier geben sie völlig übermüdet und umzingelt von Dutzenden Passanten erneut mehreren Medien Interviews, haben aber keinen direkten Kontakt zu Polizei. Journalisten versuchen zu vermitteln, und überschreiten dabei ihre Kompetenzen massiv. Der spätere Bild-Chef Röbel steigt sogar ins Auto, zeigt den ortsfremden Geiselnehmern den Weg aus der Innenstadt und steigt erst dann wieder aus. Degowski, Rösner samt Freundin und zwei Geiseln sind nun im Auto unterwegs auf der A3.

Hinter Bonn bei Bad Honnef beendet ein SEK die Irrfahrt mit einer gewagten Rammaktion mitten auf der Autobahn. Es folgt eine wilde Schießerei, die Geisel Silke Bischoff wird von einer Kugel getötet, die laut einer Untersuchung aus der Pistole von Rösner stammen soll, die zweite Geisel schwebt in Lebensgefahr und die beiden Geiselnehmer werden schwer verletzt festgenommen. Das bizarre Drama, das drei Tage zuvor in Gladbeck begann, nimmt ein blutiges Ende.

Sündenfall des deutschen Journalismus

Die Politik spricht sich danach von jeder Verantwortung frei. Blamiert steht die Polizei da, die keine direkten Verhandlungen mit den Geiselnehmern aufgenommen und sich verunsichert im Hintergrund gehalten hat. Beschämend ist aber auch das Verhalten der Medienvertreter, die in diesem Drama Akteure statt Beobachter sind. Der deutsche Presserat ändert daraufhin den Pressekodex, Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens sind nun verpönt. Bis heute gelten diese drei Tage im August 1988 als Sündenfall des deutschen Journalismus.

Drei Menschen sind tot, Degowski und Rösner werden zu lebenslanger Haft verurteilt, Rösner mit anschließender Sicherungsverwahrung. Rösner sitzt noch immer in Aachen, Degowski war seit 1992 in der JVA Werl. 2002 wird die Haftentlassung Degowskis wegen der "besonderen Schwere der Schuld" abgelehnt und die Mindestverbüßungszeit auf mindestens 24 Jahre festgelegt. 2009 weist der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsidnet Jürgen Rüttgers ein Gnadengesuch zurück.

Jetzt, fast 30 Jahre danach, ist Degowski frei: Mit positiver Prognose, neuer Identität, neuem Namen, Auflagen, Bewährungshelfer und weiteren Hilfen muss er sich in einer völlig veränderten Republik zurechtfinden. Hinter den dicken und hohen Ziegelmauern der JVA Werl galt er als Einzelgänger und soll sich eher unauffällig verhalten haben. Wecken um 6:15 Uhr, Einschließen um 21 Uhr, das war sein Leben. Seit ein paar Jahren wurde er schrittweise mit Hafturlaub und Freigängen auf seine Entlassung vorbereitet.

In der Haft äußerte er mehrfach sein Bedauern über die Tat und zeigte Reue und Mitleid mit seinen Opfern. Bereits vor zehn Jahren schrieb er: "Mein bestreben ist, ein Leben in die Gesellschaft in sozialer Verantwortung aufrichtig zu führen", wie der Spiegel aus einem Brief zitierte. Degowski habe lediglich einen IQ von 79, den Satzbau eines Sechsjährigen und die Rechtschreibung eines Legasthenikers, schrieb das Magazin. Der Focus zitierte vor fünf Jahren seinen ehemaligen Gefängnisleiter, für den Degowski "menschlich eine Null" sei - für einen ernsthaften Therapieerfolg fehle ihm der Intellekt.

Seine Nachfolgerin in der JVA, Maria Look, aber zeichnet ihm ein positives Bild: Er sei jemand, dem das, was er angerichtet hat, unendlich leid tue. Degowski, sagt seine Anwältin Lisa Grüter, sei dankbar dafür, "dass er von der Gesellschaft noch eine Chance bekommt." Es ist, wenn man so will, ein Zeichen von Zivilisation.

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