Die Verwandlung des Murat Kurnaz:Von null auf hundert

Fünf Jahre war Murat Kurnaz in Guantanamo. Jetzt liebt er schnelle Autos und lebt auf der Überholspur - was einer alles tut, um bloß kein Opfer mehr zu sein.

Nicolas Richter

Ein Sportwagen muss rot sein, sagt Murat Kurnaz. Sein Mazda RX-8 ist tiefergelegt, und ein doppelstöckiger Spoiler, Marke Shogun, ziert das Heck. Kurnaz sinkt in den schwarz-roten Sportsitz, der rechts und links Halt gibt in engen Kurven. Wenn er Gas gibt, bis der Drehzahlmesser die rote Markierung erreicht, brüllt der Antrieb wie eine Turbine.

Die Verwandlung des Murat Kurnaz: "Das neue Auto", sagt Murat Kurnaz, "schafft null auf hundert in 4,5 Sekunden."

"Das neue Auto", sagt Murat Kurnaz, "schafft null auf hundert in 4,5 Sekunden."

(Foto: Foto: Christian O. Bruch für SZ)

Der Wagen hat immerhin 230 PS, aber Kurnaz sagt: "Der Motor ist so leicht, der kann es auch mit 500-PS-Autos aufnehmen." Schneller noch beschleunigt sein Supersport-Motorrad. "Null auf hundert in drei Sekunden", sagt er, "da muss man sich ducken, damit alles bleibt, wo es ist."

Aber Murat Kurnaz kann sich nicht verstecken und niemandem davonfahren. Er ist eine öffentliche Person jetzt, und oft muss er sich mehr zeigen, als ihm lieb ist. Einmal im November muss er wieder so einen Auftritt über sich ergehen lassen, sein Anwalt soll einen Preis bekommen, und Kurnaz soll dabei sein. Es wird eine Bühne geben, Fotografen und Reden - alles, was er nicht mag.

Aber er weiß auch, dass er noch immer in Guantanamo sitzen müsste, wenn der Jurist Bernhard Docke ihm nicht eine Stimme gegeben hätte. Kurnaz zögert, ob er hinfahren wird. "Vielleicht schau ich mal fünf Minuten vorbei", brummt er.

Null auf hundert - das ist sein Maßstab für alles, was sich oder ihn bewegt, und es beschreibt auch sein Leben zurzeit. Im August 2006 haben ihn die Amerikaner freigelassen aus Guantanamo. Dort hat er, der Ende 2001 in Pakistan unter Terrorverdacht festgenommen wurde, seinen 20. Geburtstag erlebt, auch den 21., 22., 23. sowie den 24. Fünf Jahre Einsamkeit und Langeweile, unterbrochen allenfalls von Prügel, Folter und Verhören. Nur einmal brachte ihm ein deutscher Geheimdienstler zur Vernehmung ein Motorradmagazin mit.

Dann, vor 15 Monaten, wurde er zurück ins Leben katapultiert, aber er kehrte heim in eine veränderte Welt, in der er berühmt war für die einen und berüchtigt für die anderen. Der Bundestag untersuchte seinen Fall, die Regierung machte mit Bild Stimmung gegen ihn, um eigene Fehler vergessen zu machen. Kurnaz, der vermeintliche Bremer Taliban, kämpft nun darum, wieder ein normaler Bremer Kerl zu sein, der auf starke Motoren steht.

Im richtigen Leben ist es wie auf dem Motorrad: Er muss sich ducken, damit ihn die Beschleunigung nicht zu Boden reißt. Vor einiger Zeit hat er sich also den rötlichen Rauschebart abrasiert und die wallenden Haare geschnitten. Es war eine Befreiung, er kann jetzt wieder über die Straße gehen, ohne das Symbol für Islamismus oder Guantanamo zu sein.

Er möchte nicht, dass ihm das als Schwäche ausgelegt wird. "Ich hatte kein Problem damit, als Murat Kurnaz rumzulaufen. Jetzt laufe ich auch als Murat Kurnaz rum, nur eben ohne Bart." Ein breiter Schnauzer ist geblieben, er sieht jetzt aus wie ein Harley-Fahrer.

Es ist der Abend der Preisverleihung im Bremer Rathaus. Noch vor Murat Kurnaz trifft seine Mutter Rabiye ein. Sie steht sehr aufrecht da und wartet auf ihn, die Hände vor der Taille verschränkt. Jahrelang hat sie öffentlich um ihren Sohn gefleht. "Gott sei Dank haben wir es jetzt hinter uns", sagt sie, "aber der Gedanke an die Folter bleibt bei uns, bis wir sterben." Sonst ist alles wie früher, Murat wohnt zu Hause mit seinen kleinen Brüdern.

Von null auf hundert

Über Guantanamo reden sie nie. Frau Kurnaz würde es nicht ertragen, außerdem, sagt sie, sei Murat sehr viel ruhiger geworden. "Er behält alles für sich."

Die Verwandlung des Murat Kurnaz: So kennt man Murat Kurnaz - mit langem Vollbart.

So kennt man Murat Kurnaz - mit langem Vollbart.

(Foto: Foto: dpa)

Als Kurnaz schließlich im Rathaus erscheint, setzt er sich nicht in die erste Reihe zu ihr, sondern bleibt hinten im Gedränge stehen. Auf der Bühne erzählt sein Anwalt, wie die Stadt Bremen jahrelang die Rückkehr des jungen Türken hintertrieb, wie sie Vorwürfe gegen ihn erfand, statt für seine Freilassung zu kämpfen. Die Stadt widerrief sogar seine Aufenthaltserlaubnis, weil er sich, wie es hieß, zu lange nicht gemeldet habe. Den Plan hatten Deutschlands höchste Sicherheitsexperten geschmiedet, an ihrer Spitze der Kanzleramtschef, Frank-Walter Steinmeier.

Kurnaz ist hier geboren, aber der Regierung passte es ganz gut, dass er nur einen türkischen Pass hatte. Sie übermittelte der CIA Ende 2002 den "ausdrücklichen Wunsch", dass Kurnaz nicht nach Deutschland zurückkehrt.

Er steht noch immer hinten im Gedränge. Menschen schieben sich an ihm vorbei, ohne ihn zu erkennen. Regungslos harrt er im Halbdunkel aus, die kräftigen Arme in die Hosentaschen gestemmt. Docke sagt: "Er ist heute unter uns, viele werden ihn gar nicht erkennen. Murat, herzlich willkommen in Bremen."

Applaus brandet auf, ehrlich und laut, für einen Mann, den kaum jemand sieht. Es ist das erste Mal, dass er in Bremen öffentlich begrüßt wird. Aber Kurnaz genießt es nicht. Er senkt den Kopf, als wolle er dem Beifall ausweichen. Ein Kamerateam hat ihn entdeckt und blendet ihn an. Er könnte jetzt etwas sagen, etwas über sich oder die Politik, aber er schüttelt nur den Kopf. Er nimmt ein paar Glückwünsche entgegen, drückt ein paar Hände. Dann kneift er seinen kleinen Bruder, der neben ihm steht, noch kumpelhaft in die Wange und geht.

Aber die Öffentlichkeit holt ihn oft genug wieder ein. Als er für ein paar Monate einen Aushilfsjob bei der Stadt bekam, da lästerte Bild darüber, dass der umstrittene Bürger ("Er hat sogar internationale Konflikte ausgelöst") sich nun einen "schicken Sportwagen" leiste, auf einem Foto war sein Mazda zu sehen.

Vor einigen Tagen war es dem Weser Report sogar einen Artikel wert, dass Kurnaz sein Auto bei Ebay nicht losgeworden ist. Unter dem Titel "Kurnaz-Flitzer nicht verkauft" zog die Postille Vergleiche damit, dass für Joseph Ratzingers Golf einst 190.000 Euro gezahlt wurden.

Streng genommen ist Murat Kurnaz arbeitslos, aber er hat ein bisschen Geld verdient mit seiner Geschichte. Eine Entschädigung vom Staat gibt es nicht, aber sein Buch über die Guantanamo-Jahre ist gerade in Frankreich erschienen, bald kommt es in den USA auf den Markt. Arte dreht eine Dokumentation, auch einen Kinofilm wird es geben, Kurnaz ist Berater. Er sagt jetzt immer, dass er sehr viel zu tun hat.

Viele Details aus der Gefangenschaft sind grausam, doch er spricht davon seltsam distanziert. "Ich erzähle das nicht für mich, ich tue das für die Menschen, damit sie die Wahrheit erfahren." Womöglich muss man ja etwas Distanz schaffen, denn es könnte anstrengend sein, dies alles immer wieder zu durchleben, Demütigungen, Verhöre, Tage und Nächte in der Isolierzelle.

"Anstrengend?", fragt er irritiert. Er denkt nach. Kurnaz redet in wenigen, kurzen Sätzen, und er überlegt sie sich meist genau. "Nicht anstrengend. Langweilig", sagt er. Er glaubt nicht, dass es ihm ergehen könnte wie Khaled el-Masri, dem CIA-Opfer aus Neu-Ulm, der vor Ausschüssen und Kameras sehr beherrscht war und der irgendwann einen Supermarkt anzündete. "Ich habe keine Probleme", sagt Kurnaz und lächelt. "Wie sagt man: Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker."

Er hat immer viel seinen Körper trainiert, und Kraft spielt eine große Rolle in seinem Leben - vor allem die Kraft, die man vorzeigen kann, Muskeln und Motoren. Er mag es nicht, ein Opfer zu sein.

Dabei hat er viel verloren. Nicht nur fünf Jahre seiner Jugend, sondern zum Beispiel auch seine Frau. Sie war keine Disco-Liebe wie die anderen vorher, sondern ein frommes Mädchen aus der Türkei. Dort hatte er sie im Sommer 2001 geheiratet, bis Ende des Jahres sollte sie zu ihm nach Bremen ziehen. In der Zwischenzeit wollte er, so hat er es immer beteuert, in Pakistan den Islam studieren. Bis Weihnachten wollte er zurück sein, doch er geriet in die amerikanische Anti-Terror-Maschinerie.

In Bremen erzählte jemand seiner Mutter, er kämpfe in Afghanistan. Sie eilte in seine Bremer Moschee und forderte von dem Imam ihren Sohn zurück. Nur Murat Kurnaz weiß, was er damals wirklich vorhatte. Im Untersuchungsausschuss sagte es eine Abgeordnete so: "Selbst wenn Sie ein Islamist gewesen wären, würde das nichts daran ändern, dass Ihnen dort unglaubliches Unrecht angetan wurde."

Die Terrorvorwürfe jedenfalls haben sich schnell verflüchtigt, die Ermittlungen wurden eingestellt. Aber es dauerte, bis er heimkehrte. Seine Frau wartete drei Jahre und ließ sich scheiden. Er hat sich nie wieder bei ihr gemeldet. "Ich hörte, dass sie wieder heiraten würde. Ich wollte mich nicht einmischen. Sie hat schon genug gelitten wegen mir."

Kurnaz ist ein Familienmensch. Es empört ihn zum Beispiel, wenn jemand seine greisen Eltern in ein Heim schickt. "Wenn du denjenigen abschiebst, der dich großgezogen hat, dann bist du kein Mensch mehr, sondern ein Tier", sagt er. Familie gibt Halt, aber sie schnürt manchmal auch ein. Er wusste damals, dass seine Eltern der Pakistan-Reise nie zugestimmt hätten. Weder sein Vater, der nachts bei Mercedes am Fließband steht und tagsüber schläft, noch seine Mutter, die immer für alle da ist und bügelt und kocht.

Um ihnen nicht widersprechen zu müssen, fragte er erst gar nicht und verschwand über Nacht. Auch deswegen geriet er unter Verdacht, wenige Wochen nach den Anschlägen in Amerika. Vielleicht hatte dies alles genauso viel mit Religion zu tun wie mit dem Wunsch, einmal ein Abenteuer zu erleben zwischen zwei Familienleben.

Als er weg war, erzählten Kollegen, er habe das Wort Taliban auf seinem Handy stehen gehabt und sei zum Äußersten entschlossen. Sehr beeinflussbar. Kurnaz erklärt das mit dem Neid der anderen. Er war mit 19 körperlich überlegen, fuhr im Mercedes seines Vaters herum, hatte oft Mädels dabei und war Türsteher in der Disco. Im Betrieb, wo er Schiffbau lernte, sagten sie, er sei ein Zuhälter.

Von null auf hundert

Die Verwandlung des Murat Kurnaz: Kurnaz: "Ich hatte kein Problem damit, als Murat Kurnaz rumzulaufen. Jetzt laufe ich auch als Murat Kurnaz rum, nur eben ohne Bart."

Kurnaz: "Ich hatte kein Problem damit, als Murat Kurnaz rumzulaufen. Jetzt laufe ich auch als Murat Kurnaz rum, nur eben ohne Bart."

(Foto: Foto: Christian O. Bruch für SZ)

Als er plötzlich sehr fromm wurde, hieß es, er stehe auf der Seite al-Qaidas. "Ich war eben sehr auffällig", sagt Kurnaz. Er hat vielleicht immer ein bisschen auffallen wollen, jedenfalls wiederholte sich die Geschichte nach seiner Rückkehr, als er den langen Bart trug. Da stellten einige Deutsche die Frage, warum denn "so einer", ein bärtiger Türke, der Bundesregierung Ärger macht. Kurnaz zuckt mit den Achseln. "So ist eben die Welt. Man kann nicht von jedem geliebt werden."

Aber hinter dieser Coolness und Abgeklärtheit hat er sich doch dazu entschlossen, "jetzt jedem Ärger aus dem Weg zu gehen". Früher war er der starke, vielleicht angeberische Murat in der Disco, dann trug er eine Religiosität zur Schau, die auf manche verstörend wirkte. Jetzt ist er vorsichtig geworden. Er kalkuliert ein, dass jedes seiner Worte zu seinem Nachteil ausgelegt werden könnte. Einmal erzählt er, dass er jetzt Kampfsport macht. "Aber schreiben Sie dazu", sagt er schnell, "ich benutze das nicht auf der Straße, ich behalte das für mich."

Kurnaz hat seine kräftigen Arme auf einen Cafétisch gestützt und schiebt zwei Bierdeckel hin und her. Ebenso behutsam geht er mit seinen Peinigern um. Er ist so diszipliniert und beherrscht, dass er sich nie zu einer Tirade hinreißen lässt. Natürlich ist es bitter für ihn, dass der junge Deutsche Marco W., der wegen sexuellen Missbrauchs in der Türkei angeklagt ist, scheinbar mehr Aufmerksamkeit bekommt als er damals in Guantanamo.

Kurnaz sagt, dass er aus Berlin eine Entschuldigung erwartet, und er weiß ebenso, dass es keine geben wird. "Aber bloß wegen ein paar Versagern unter den Politikern muss ich ja nicht unbedingt wegziehen oder so." Heimat bleibt Heimat für ihn, egal wie schlecht sie ihn behandelt hat.

Die Welt, in die er sich jetzt zurückgezogen hat, sie besteht aus seinen Freunden und seiner Familie, aus Sport und Autos. Er versucht, alles andere, die Medien, die Politiker, zu verdrängen. Menschen auf der Straße haben ihn natürlich angesprochen, sie fragten nach Pakistan und was es mit dem Bart auf sich hatte.

Kurnaz sagt, er habe die meisten für sich gewonnen, weil er ihnen guten Gewissens erklären konnte, dass er nie jemandem geschadet habe. Er schmunzelt eine Weile und sagt: "Am Ende schimpften sie dann auf die Regierung."

Hier an der Weser ist jedenfalls sein Revier, und er verhält sich manchmal ganz unbefangen, als habe es Guantanamo nie gegeben. Als er am Weserufer an einem windigen Novembermorgen hält, hier, wo er schon seit der Kindheit gespielt hat, entdeckt er an einem geparkten Mercedes ein klaffendes Loch in der Stoßstange. Er starrt auf das Loch, es lässt ihm keine Ruhe. Er geht auf zwei Männer zu, die am Wasser miteinander tuscheln. "Ist das Euer Mercedes? Was ist da mit der Stoßstange los?" Die Fremden blicken einander irritiert an, aber Kurnaz kann hartnäckig sein. "Schöne Farbe", sagt er, um das Gespräch noch zu beleben, "mein Vater hat auch eine C-Klasse, in Silber, das gefällt mir nicht so." Die Männer wirken unsicher, wie ertappte Autoschieber. "Die Farbe macht schon viel aus", sagt Kurnaz noch, dann nickt er ihnen zu und geht. "Die Leute sind immer so misstrauisch", brummt er.

Über seinen Glauben redet er dagegen wenig. Er sagt zwar: "Ich fürchte nichts mehr, außer meinen Gott." Aber es wirkt zumindest so, als spiele der Islam eine schwindende Rolle. Seine Mutter sagt, er sei kaum noch religiös, und sie dankt dem Himmel dafür. Nach seiner Rückkehr habe er nicht einmal die Anwesenheit einer Frau im selben Zimmer ertragen, aber das habe sich erledigt.

Kurnaz sagt, in Guantanamo habe er gelernt, dass sich Stärke nicht nur in körperlicher Kraft äußert, sondern auch in Geduld, in der Fähigkeit, die Prüfungen zu ertragen, die Gott einem stellt. Ein religiöser Eiferer ist er jedenfalls nicht oder nicht mehr, und mehr als der Koran bewegt ihn scheinbar sein Motorrad, mit dem er ab und zu in Lederkluft über die Autobahn nach Berlin brettert.

Kurnaz ist jetzt 25, und er gibt sein Leben nicht verloren. "Ich bin immer noch jung", sagt er, "und habe noch große Pläne für die Zukunft." Er will eine Frau finden, zum Heiraten, und damit endlich auch ein eigenes Zuhause. Außerdem wird er einen deutschen Pass beantragen.

Allerdings weiß er noch nicht, was er tun wird, wenn das Interesse an ihm einmal nachlässt, wenn er nicht mehr Bremer Taliban ist, ohne es zu wollen, wenn ihn zum ersten Mal nach langer Zeit niemand mehr bewundert oder fürchtet. Er weiß nicht, welche Aufgabe, welche Rolle das sein wird. Nur, dass er nicht wieder Schiffe bauen will.

Aber erstmal will er leben. Statt des roten Mazdas möchte er jetzt ein Cabrio, mit noch mehr PS. So aufregend die Freiheit auch sein mag nach fünf Jahren in der Zelle, sein Glück lässt sich in einfache Worte fassen. "Das neue Auto", sagt Murat Kurnaz, "schafft null auf hundert in 4,5 Sekunden."

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