Die verschwundene Kennedy-Schwester:Das Mädchen Rosemary

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Nicht einmal das FBI wusste, wo sie ist: Ein französischer Journalist hat sich auf die Suche gemacht - und das Leben der behinderten Schwester von John F. Kennedy minutiös rekonstruiert.

Jeanne Rubner

Es ist um die Mittagszeit an einem sonnigen Herbsttag 1975 in Chicago, als der Reporter Peter Nolan einen Hinweis erhält: Rosemary Kennedy wird vermisst. Die geistig behinderte Schwester des ermordeten Präsidenten JFK ist nach dem sonntäglichen Kirchgang verschwunden, ihre jüngere Schwester Eunice hat es soeben der Polizei gemeldet.

Die Familie Kennedy 1937: Tochter Rosemary (3. von rechts), damals 19, umarmt ihren Bruder Joe Junior - er starb im Zweiten Weltkrieg. Der spätere US-Präsident John F. Kennedy steht links vor dem Vorhang, der spätere US-Senator Edward sitzt im Matrosenanzug neben seiner Mutter Rose (rechts). Sie hatte mit dem Unternehmer Joseph P. Kennedy (links) neun Kinder. (Foto: Foto: dpa)

Nolan springt mit einem Kameramann aus dem Büro, in der Hoffnung ein paar Aufnahmen mit Seltenheitswert zu drehen, seit Jahrzehnten hat niemand mehr Rosemary gesehen. Fünf Stunden lang suchen die Polizei und der Reporter, jeder für sich, die Vermisste. Nolan wird sie als Erster entdecken: an der Ecke Monroe Street und Michigan Avenue, vor einem Schaufenster. Der Reporter hat kaum Zeit, Bilder zu machen, denn wenig später sind Polizisten zur Stelle und nehmen Rosemary mit.

Von seiner Begegnung mit Rosemary Kennedy hat Nolan dem französischen Journalisten Pierre Pratabuy erzählt. Fasziniert von der Geschichte hatte sich Pratabuy 2005, nach Rosemarys Tod, auf Spurensuche gemacht, Zeugen kontaktiert und Archive aufgesucht. Minutiös hat er das Leben der Kennedy-Schwester rekonstruiert und jetzt für die französische Kulturzeitschrift XXI aufgeschrieben - und dabei einige überraschende Details ans Licht gebracht.

Rosemarys Leben, bislang nur eine Fußnote in der Geschichte der Kennedys, ist eines der tragischsten Schicksale des Clans, auf dem ein Fluch zu lasten scheint. Joe Junior, ältester Sohn von Joseph Patrick und Rose, stürzte mit seinem BQ8-Bomber im Zweiten Weltkrieg über Ostengland ab; die zweite Tochter Kathleen kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben, John starb 1963 in Dallas durch die Kugeln eines Attentäters, fünf Jahre später wurde sein jüngerer Bruder Bobby umgebracht. Dessen Sohn Michael verletzte sich tödlich bei einem Skiunfall in Aspen, JFK-Sohn John Junior stürzte mit seinem Flugzeug in den Atlantik. Rosemary starb zwar mit 86 Jahren eines natürlichen Todes, doch verpfuscht war ihr Leben da schon lange.

Der Druck der ehrgeizigen Eltern

Rosemary wird am 13. September 1918 in Boston als drittes Kind und erste Tochter von Joe und Rose geboren. Das kleine Mädchen lernt spät laufen, schreiben und lesen fallen ihr schwerer als den Geschwistern, man vermutet eine leichte geistige Behinderung. Trotzdem nimmt sie am glamourösen Familienleben teil, spielt Tennis und segelt, besucht Partys und Bälle. Später in London, wo der Vater amerikanischer Botschafter wird, macht Rosemary 1939 bei katholischen Klosterschwestern einen Abschluss in Montessori-Pädagogik. Eine ehemalige Mitschülerin erinnert sich an sie als ganz normale junge Frau, "hübsch, gut angezogen, hochgewachsen, mit Haltung".

Als die Deutschen in Belgien einmarschieren, schickt Joe Kennedy seine Tochter heim, was keine gute Entscheidung für Rosemary sein wird. Vielleicht liegt es daran, dass sie den Druck der ehrgeizigen Eltern spürt, jedenfalls zeigt sie Symptome leichter Erregbarkeit, von Hysterie und Gewaltbereitschaft. Das wird Mutter Rose in ihren 500 Seiten starken Memoiren notieren, in denen sie Rosemarys Schicksal gerade nur eine Handvoll Seiten widmete.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Rosemarys Schicksal einer ganzen Nation verborgen bleiben konnte

Des Nachts flüchtet Rosemary öfters aus dem Kloster in Washington, wo sie untergebracht ist. Dann hören die Eltern von einer neuartigen Gehirnoperation, die das Gemüt beruhigen soll. Rosemary wird 1941 von den Neurochirurgen Walter Freeman und James Watts einer Lobotomie unterzogen.

Es gibt kaum eine Operation, die einen stärkeren Effekt auf das Denken hat: Bei einer Lobotomie werden die Nervenbahnen, welche die Stirnlappen mit dem Rest des Gehirns verbinden, durchtrennt. In den vierziger Jahren gab es noch keine Anti-Depressiva oder Beruhigungsmittel, der Eingriff sollte Patienten mit Schizophrenie oder Psychosen Linderung verschaffen. Doch auch damals war klar, dass eine Lobotomie das Gefühlsempfinden massiv stört und abstraktes Denken praktisch vernichtet.

Bei Rosemary haben die Neurochirurgen wohl zu viel geschnitten, die lebhafte junge Frau fällt zurück in den geistigen Zustand eines Kleinkindes. Über Nacht verschwindet sie aus dem offiziellen Leben der Kennedys. Seitdem gibt es kein Foto mehr, das Rosemary zeigt, sie ist einfach verschwunden. Zunächst bleibt sie ein paar Jahre in einer Prominentenklinik im Norden von New York.

Die Kennedys bezahlen die Rechnungen pünktlich, wie sich der Sohn des Klinikarztes erinnert, doch sie sind nie gekommen, um ihre Tochter zu besuchen. Eines Tages ruft ein Vertreter der Familie an, Rosemary solle woanders hinziehen. Binnen weniger Stunden werden ihre Sachen gepackt, mit einem Privatzug wird sie nach Wisconsin gebracht. Im Kloster St. Coletta wird sie - in einem eigens für sie gebauten Bungalow - 57 Jahre leben. Mehrere Krankenschwestern kümmern sich um sie. Über ihre Patientin haben sie nie öffentlich gesprochen, nur so viel, dass Rosemary immer glücklich gewesen sei.

Während des Krieges bemerkt niemand das Verschwinden der Kennedy-Tochter. Doch spätestens als die politische Karriere von JFK einen fulminanten Start nimmt, gerät auch die Familie in das Scheinwerferlicht. Man will wissen, wo die Schwester des politischen Hoffnungsträgers lebt, der 1947 mit nur 29 Jahren Abgeordneter wird, und die Fragen dürften zu der plötzlichen Umsiedlung von Rosemary geführt haben.

Zunächst lässt die Familie verlauten, sie sei Lehrerin, später heißt es, sie kümmere sich um behinderte Kinder in der katholischen Privatschule St. Coletta. Während seiner Kandidatur entschließt sich JFK zu der Version, Rosemary sei als Kind an einer Gehirnhautentzündung erkrankt und lebe seitdem in einer Klinik in Wisconsin. Bis heute hat die Familie die Lobotomie nicht offiziell zugegeben.

Kurz mal im Kino

Wie konnte Rosemarys Schicksal einer ganzen Nation verborgen bleiben? Das bleibt rätselhaft. Nicht einmal das FBI, das 1956 auf Wunsch des Weißen Hauses Nachforschungen über Joe Kennedy und dessen Geschäfte anstellt, wusste, wo die junge Frau sich befindet. Eine Notiz in den Archiven der Bundespolizei erwähnte, dass sie geistig behindert, ihr Aufenthaltsort jedoch geheim sei.

Nach all dem, was Pratabuy zusammengetragen hat, scheint nur Vater Joe gewusst zu haben, wo Rosemary war. Selbst Mutter Rose erfuhr wohl erst 1960 vom Refugium im Kloster. Erst als ein Gehirnschlag den Patriarchen 1961 in den Rollstuhl zwingt, entkommt Rosemary ihrer Isolation. Sie verbringt regelmäßig Weihnachten im Familiendomizil von Hyannis Port, geht ab und zu sonntags in die Kirche mit Schwester Eunice.

Fünf Stunden Freiheit hatte Rosemary sich damals in Chicago gestohlen. Sie war durch den Hintereingang in ein Kino gegangen. Und weil sie, wie die Platzanweiserin später erzählen wird, ein wenig orientierungslos aussah und der Saal mittags ziemlich leer war, ließ man sie gewähren. Rosemary, die nichts von der Welt kannte, schaute Filme.

© SZ vom 11.05.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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