Süddeutsche Zeitung

Die Engländer und ihr Plumpudding:Eine Tradition, die schwer im Magen liegt

Der britische Christmas Pudding darf auf keinem Festtagstisch fehlen, die Speise eignet sich aber auch für Wettkämpfe.

Wolfgang Koydl

Genau kann sich Joe Moostletoe nicht mehr erinnern, warum sie damals ausgerechnet auf den Christmas Pudding kamen. Es ist ja auch schon 25 Jahre her, als er und ein paar Freunde die zündende Idee hatten, in der Vorweihnachtszeit ein leicht verrücktes Benefiz-Rennen zu organisieren. "Sinn der Übung war es natürlich von Anfang an, einen Narren aus sich zu machen", sagt Moostletoe, und man kann nicht abstreiten, dass er sich auch heute noch an diese Maxime hält.

Ein T-Shirt spannt sich wurstpellenartig über seinen vollschlanken Torso, der aussieht, als ob er eine Vielzahl von Weihnachtsleckereien beherbergen könnte, und auf den Kopf hat er sich einen übergroßen grünen Filzhut gedrückt, der ihn wie einen Leprechaun, einen irischen Waldschrat, aussehen lassen soll.

Nun haben Briten gemeinhin nichts dagegen, sich lächerlich zu machen, zumal dann nicht, wenn es für einen guten Zweck geschieht. Und darum geht es beim alljährlichen Christmas Pudding-Rennen von Covent Garden, das sich Joe Moostletoe und seine Kameraden damals ausdachten, und bei dem Geld für die Krebsforschung gesammelt wird. Im letzten Jahr sind immerhin stolze 20.000 Pfund zusammengekommen, und dieses Jahr soll es noch mehr werden.

Hüpft wie ein Gummiball

Dutzende von maskierten Kindern, aber auch von erwachsenen Männern und Frauen sind an diesem bitterkalten Dezembertag gekommen, um im Schatten des Royal Opera House und jener legendären Markthallen, in denen George Bernard Shaw seine Eliza Doolittle Blumen verkaufen ließ, über einen Parcours teuflischer Hindernisse zu stolpern. Und um die Sache noch schwieriger zu gestalten, müssen sie dabei einen Teller mit einem schwergewichtigen Christmas Pudding nach Kellnerart in Schulterhöhe in der Hand balancieren.

Sobald die Läufer die erste Spitzkehre genommen haben, wird übrigens klar, weshalb die Organisatoren sich damals für Christmas Puddings entschieden haben. Im unerhitzten Zustand ist die braune Masse nämlich schier unzerstörbar. In der Tat: Die an kleine Maulwurfshügel erinnernden Teighaufen mit dem Stechpalmenzweiglein auf der Spitze besitzen die Konsistenz fest gekneteten Kautschuks.

Wenn sie vom Teller rutschen und auf das Pflaster fallen, hat es auf den ersten Blick mitunter den Anschein, als ob sie wieder hochspringen würden wie ein Gummiball. Diesen Gefallen tun sie den Läufern zwar nicht; aber immerhin lassen sich die Puddings wieder auflesen, ohne dass ein einziger Brösel verloren gegangen wäre.

Spottmäuler mögen einwenden, dass dieser traditionelle britische Weihnachtsschmaus, der in Deutschland eher unter dem Namen Plumpudding bekannt ist, auch im fertigen, gekochten Zustand an die zusammengepappten Überreste eines zerfetzten Autoreifens erinnert; ein Eindruck überdies, der sich beim mühsamen Verdauungsprozess eher verstärkt denn abschwächt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass auch in diesem Jahr wieder im Vereinigten Königreich 40 Millionen Christmas Puddings verspeist werden - in Restaurants, Hotels, Kantinen, aber vor allem zuhause als krönender Abschluss eines ohnehin schon substantiellen Truthahn-Schmauses.

Pudding ist Pflicht

"Der Pudding ist absolute Pflicht, ob man ihn mag oder nicht", sagt denn auch Toni Gill. Sie muss es wissen, schließlich macht sie die Öffentlichkeitsarbeit für den Familienbetrieb Matthew Walker, der seit 1899 im Geschäft ist und heute als größter Hersteller einen wesentlichen Anteil an den vielen verzehrten Puddings hat.

Wenn man rechnet, dass knapp 60 Millionen Menschen in England, Schottland, Wales und Nord-Irland leben und dass jeder Pudding in mehrere Scheiben geschnitten wird, dann ermisst man erst den ganzen Wahrheitsgehalt von Toni Gills Aussage: Niemand, kein Kleinkind, kein einsamer Leuchtturmwächter und kein Schafzüchter auf einer entlegenen Shetland-Insel, entgeht dem Pudding. Aber nicht jeder würgt ihn angewidert hinunter, versichert Toni Gill: "Die meisten Leute würden sich betrogen fühlen, wenn es zum Nachtisch keinen Pudding gäbe."

An dieser Stelle ist vielleicht eine Erklärung notwendig: Der englische Pudding hat nämlich nichts mit jenen Süßspeisen gemein, die man in Deutschland meist mit dem Namen Doktor Oetker in Verbindung bringt, und die sämig weich mit dem Löffel aus einem Schälchen gegessen werden. Der britische Pudding ist eher eine Art von Kuchen, der aber nicht immer süß sein muss.

Der Yorkshire Pudding etwa ist ein leichtes Gebäck, das als Beilage zu Roastbeef mit Bratensoße gereicht wird, und hinter dem Black Pudding verbirgt sich nicht etwa eine Schokoladenleckerei für Süßmäuler, sondern schlicht die deutsche Blutwurst. Und wenn ein Angehöriger der englischen Oberschicht nach einem Pudding verlangt, so meint er damit ganz allgemein einen Nachtisch. So betrachtet, kann ein Pudding auch ein Fruchtsalat oder eben sogar ein kontinentaler Schoko-Pudding mit Vanillesoße sein.

Der Vorfahr des Christmas Puddings hatte denn auch wenig mit der Weihnachtsdelikatesse von heute zu tun. Im 14. Jahrhundert, das nicht für kulinarische Höhepunkte bekannt ist, aßen die Briten in der Fastenzeit vor dem Christfest eine Art von dicklicher Suppe. Dieses "frumenty" genannte Gemisch erhielt man, indem man Rind- und Hammelfleisch zusammen mit Rosinen, Dörrpflaumen, Wein und allen möglichen Gewürzen so lange auf traditionelle englische Art kochte, bis alle Zutaten zerfaserten.

Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts war dieses Porridge durch Zugabe von Eiern, Brotkrumen, Bier und anderen alkoholischen Getränken soweit gestockt, dass es schon eher an den späteren Plumpudding erinnerte. Dessen Name leitete sich ja von den getrockneten Zwetschgen ab, die dem Pudding einen fruchtigen Geschmack verleihen sollen.

Doch kaum, dass sich die Kalorien-, Kohlenhydrat- und Cholesterolbombe als fester Bestandteil des Weihnachtsfestes zu etablieren begann, wurde der Pudding verboten. Die Puritaner, die unter Oliver Cromwell im 17. Jahrhundert ihr strenges Regiment errichteten, untersagten den Genuss des "sündig reichhaltigen" Gerichtes als "unzüchtigen Brauch". Und die sittenstrenge Sekte der Quäker, deren einziger Beitrag zum Weltkulinarerbe die bescheidene Haferflocke ist, sahen in dem braunen Teigklops gar "eine Erfindung der scharlachroten Hure von Babylon".

Vermutlich stießen sich die prüden Kostverächter am hohen Alkoholgehalt der Christmas Puddings. Neben den üblichen Zutaten - Nierenfett, Mehl, Zucker, Semmelbrösel, Rosinen, Sultaninen, Mandeln, Eiern, Zimt, Ingwer und Nelken - müssen ordentliche Mengen Alkohol eingerührt werden. Das ist meistens Brandy oder Rum, kann aber auch Guiness oder eine andere Biersorte sein.

Der Puddinghersteller Coles hat gar eine Variante im Angebot, bei dem alleine die Lektüre der Ingredienzien schwindlig macht: Rum, Brandy, Portwein, Kirschwasser und Amaretto. Rechnet man dazu, dass der Pudding mit Cognac flambiert und mit Cognacbutter beschmiert werden muss, so weiß man, weshalb übermäßiger Kuchengenuss unter Umständen zum Verlust der Fahrerlaubnis führen kann.

Angst vor EU-Bürokraten

Vielleicht war es ja diese Eigenschaft des Plumpuddings, die König George I. so tüchtig zulangen ließ, als man ihm nach seiner Ankunft aus Hannover zu seinem ersten englischen Weihnachtsfest die Delikatesse auftischte. George, der England von 1717 bis 1724 regierte, bevor er es sich - wenn auch nicht an Weihnachtsgebäck - buchstäblich überfraß und tot umfiel, machte den Pudding in England salonfähig. Die höheren literarischen Weihen verlieh ihm Charles Dickens in seiner Weihnachtsgeschichte.

Gefahr droht dem Pudding heute weniger von der EU-Bürokratie in Brüssel, wie das manche Briten paranoid unterstellt hatten. Sie glaubten, dass die Europäische Union die Sitte, Silbermünzen im Christmas Pudding zu verstecken, untersagen wolle, weil arglose Esser (wahrscheinlich Kontinentaleuropäer) daran ersticken könnten. Aber das Gerücht erwies sich als haltlos.

Problematischer freilich ist es, den Nachwuchs für das reichhaltige Gericht zu gewinnen. Für Figur- und Fitnessbewusste gibt es mittlerweile zwar ein großes Angebot an Frucht- und Diätvarianten. Die größte Herausforderung freilich stellen die Kinder dar, wie Toni Gill von Matthew Walker freimütig zugibt. "Das wird ein echter Kampf werden, neue Generationen dazu zu kriegen, den Pudding zu mögen", seufzt sie.

Den Grund für die Abstinenz glaubt Toni Gill auch schon ausgemacht zu haben. "Es sind die Rosinen." Aber ohne Rosinen wäre ein Plumpudding kein Christmas Pudding. Und wenn er beim Christmas Pudding Race vom Teller fiele, würde es ihn zerbröseln. Buchstäblich.

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SZ vom 24.12.2005
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