Süddeutsche Zeitung

Der Fall Kalinka:30 Jahre durch die Hölle

Der deutsche Arzt Dieter Krombach soll 1982 seine Stieftochter ermordert haben. Er wurde nie dafür verurteilt. Nun wird ihm in Paris der Prozess gemacht - und Kalinkas leiblicher Vater hofft auf Erlösung.

In Paris wird seit Dienstag einer der spektakulärsten Kriminalfälle der vergangenen Jahre neu aufgerollt: der Fall Kalinka. Vor knapp 30 Jahren soll der deutsche Arzt Dieter Krombach seine damals 14-jährige Stieftochter ermordet haben. Nun soll ein Geschworenengericht das Geschehen neu bewerten, und Krombach muss sich erstmals vor Gericht verantworten.

Seit dem Tod des Mädchens sind fast drei Jahrzehnte vergangen - eine lange Zeit, um die mysteriösen Umstände nachträglich zu beleuchten und die Todesursache zu rekonstruieren. Um verschlampte Beweise hervorzuholen. Um die Wunden von Kalinkas leiblichem Vater André Bamberski zu heilen.

Kalinka Bamberski lebte mit ihrer Mutter und dem Stiefvater Dieter Krombach in Lindau. Es ist der 9. Juli 1982, als die 14-Jährige, ein gesundes, sportliches Mädchen, von einem Badetag am Bodensee nach Hause kommt. Am Abend spritzt der Arzt seiner Stieftochter ein Eisenpräparat, angeblich, weil sie an Anämie leidet - eine Diagnose, die Mediziner ebenso in Frage stellen wie die Behandlungsmethode. Am nächsten Morgen liegt Kalinka tot in ihrem Bett.

Doch die Staatsanwaltschaft Kempten ist nicht in der Lage, die Todesursache herauszufinden. Die Möglichkeit eines Sexualverbrechens wird nicht in Erwägung gezogen und nicht einmal im Ansatz untersucht. Krombach kommt nie vor Gericht. Auch das Oberlandesgericht München sieht keinerlei Hinweise für ein Verbrechen, weder für Mord noch für ein Sexualdelikt - und erklärt den Fall fünf Jahre später für erledigt.

Die Ignoranz und die Schlampereien im Fall Kalinka ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte: Die Autopsie erfolgte 60 Stunden später. Obwohl die sommerlichen Temperaturen den Verwesungsprozess beschleunigten, wurde die Leiche nicht gekühlt. Der Körper faulte bereits stark, als der Pathologe im Stadtkrankenhaus Memmingen seine Arbeit aufnahm - was die Untersuchung erschwerte. Selbst ein Dehnungsriss an der Schamlippe des Mädchens führte nicht dazu, nach Rückständen von Sperma zu suchen - nicht einmal das Bettlaken wurde sichergestellt. Der Rechtsmediziner soll davon ausgegangen sein, dass die Verletzung nach dem Tode entstanden sei. Auch auf eine Untersuchung des Herzblutes nach Gift wurde verzichtet.

Die Fehler bei der Untersuchung verschlimmern die Qualen für Kalinkas Vater nur noch. Seit Jahrzehnten kämpft André Bamberski mittlerweile dafür, dass der mutmaßliche Mörder seiner Tochter zur Verantwortung gezogen wird. Der Franzose schickte Anträge an die deutsche und die französische Justiz, schrieb an Politiker, verteilte Flugblätter am Bodensee, sammelte Beweise und setzte einen Detektiv auf Krombach an. Doch das deutsche Gericht sah keine Möglichkeit, dem Arzt die Tat nachzuweisen. Und Frankreich kam nicht an ihn ran. Immerhin wurde Krombach 1995 von einem französischen Gericht wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Um Krombach endlich seiner Strafe zuzuführen, beging Kalinkas leiblicher Vater selbst ein Verbrechen: Im Oktober 2009 ließ er Krombach gewaltsam nach Frankreich bringen. Später behauptete er, drei Männer aus Osteuropa hätten ihm angeboten, den Arzt zu entführen, er hätte die Tat lediglich gebilligt. Deutschland erhob Einspruch gegen die Verschleppung seines Bürgers. Doch die französische Justiz ließ sich nicht beirren und setzte den Prozess an.

Mittlerweile ist längst bekannt, dass Krombach eine Vorliebe für junge Mädchen hatte - und diese auch auslebte. Im Februar 1997 vergewaltigte der Arzt in seiner Lindauer Praxis eine 16-Jährige, der er zuvor eine Narkose verabreicht hatte. Das Landgericht Kempten verurteilte ihn wegen "sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger" zu zwei Jahren auf Bewährung - der reine Hohn.

Doch es wird enger für Krombach: Für den neu aufgerollten Prozess in Paris werden weitere Aussagen von Patientinnen erwartet, die als Jugendliche belästigt worden seien. Nun, da immer klarer wird, dass der Angeklagte seine krankhafte Neigung nicht im Griff hatte, zeichnet sich auch ein mögliches Motiv ab: Krombach könnte seine Stieftochter mit der Absicht, sie zu missbrauchen, betäubt und dabei versehentlich getötet haben. Oder die Vergewaltigung hatte bereits stattgefunden und Krombach ermordete das Mädchen, um seine Tat zu vertuschen.

Jahrelang hatte Bamberski auf diesen Augenblick gewartet: Nun sitzt der Franzose dem Mann gegenüber, den er für den Mörder seiner Tochter Kalinka hält. Er will erfahren, was wirklich an jenem 10. Juli 1982 geschah, als seine Tochter tot aufgefunden wurde. Er will, dass sich Kalinkas Stiefvater endlich zu den Vorwürfen äußert.

Gleich zu Beginn des Prozesses ergab sich eine weitere Verzögerung: Krombachs Anwalt hatte die Zuständigkeit des Pariser Gerichts angezweifelt und einen Prüfantrag gestellt mit der Begründung, dass sich niemand zweimal für die gleiche Straftat verantworten muss. Das Schwurgericht wies den Antrag ab. Es geht weiter für Bamberski. Endlich.

Eine Reportage zum Fall Kalinka lesen Sie in der SZ vom 30.3.2011 auf der Seite 3.

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