Der Fall "Fat Boy" in England:Sie lieben ihn zu Tode

Eine Mutter füttert ihr Kind, bis es 90 Kilo wiegt. Nun ist in England eine Debatte entbrannt, ob das Misshandlung oder gut gemeinte Versorgung ist.

Wolfgang Koydl

Schoko-Pops zum Frühstück, Burger und Pommes zum Mittagessen, Würstchen und Kartoffelbrei am Abend und dazwischen im Halbstundentakt Kekse, Kartoffelchips und Süßigkeiten: Der achtjährige Connor McCreaddie aus dem Ort Wallsend nahe der nordenglischen Hafenstadt Newcastle war nach den Worten seiner Mutter Nicola McKeown schon immer eine veritable Fressmaschine.

Inzwischen bringt er 90 Kilo auf die Waage - dreimal mehr als er wiegen dürfte. Vier Betten, sechs Toilettensitze und fünf Fahrräder sind unter seinem Gewicht schon zusammengebrochen.

Connor ist selbst in einem Land, in dem die Zahl klinisch übergewichtiger Kinder unter elf in den letzten zehn Jahren sprunghaft nach oben geschnellt ist, eine Ausnahme.

Nun befasst sich ein Expertengremium mit der Frage, ob das, was seine Mutter und Großmutter mit ihm anstellen, Affenliebe ist oder vielleicht doch Kindesmisshandlung.

Eine Generation, die kürzer lebt als die Eltern

Zwei Krankenschwestern, ein Kinderarzt, der Vize-Direktor seiner Schule, ein Polizist und zwei Sozialarbeiter befinden diese Woche darüber, ob der "Fat Boy" zum eigenen Schutz staatlicher Aufsicht unterstellt und in ein Heim eingewiesen werden soll.

Es wäre das erste Mal, dass die Behörden in England jahrelange falsche Ernährung als Vernachlässigung oder Misshandlung bewerten. Angesichts des wachsenden Problems mit übergewichtigen Kindern hat der Fall in Großbritannien für Aufsehen gesorgt.

Experten in England weisen darauf hin, dass Adipositas unter Jugendlichen schon bald Rauchen als häufigste Ursache frühen Todes ablösen wird. Schon vor drei Jahren warnte die britische Lebensmittelaufsichtsbehörde, dass eine Generation von Kindern heranwachse, die zum ersten Mal in der Geschichte eine kürzere Lebenserwartung habe als ihre Eltern.

Als Anfang des Jahres zwei Brüder in Cambridge zu einer Geldstrafe verurteilt worden waren, weil sie ihren Labrador Rusty auf gesundheitsbedrohende elf Stone hochgepäppelt hatten, waren erstmals Fragen laut geworden, ob der Staat nicht auch im Fall von falsch ernährten Kindern aktiv werden solle.

Tom Fry von der Stiftung "Child Growth Foundation" ist überzeugt davon, dass "Eltern zur Rechenschaft gezogen werden" müssten: "Derartiges Übergewicht zuzulassen ist Kindesmisshandlung. Wir würden ja nicht einmal einen Hund so behandeln wollen."

Sie lieben ihn zu Tode

Auch die Kinder-Psychiaterin Alyson Hall hält ein Eingreifen des Staates für absolut richtig: "Es gibt Kinder, die unter Atemstillstand im Schlaf und anderen ernsten Gesundheitskomplikationen leiden, die von Diabetes her rühren", erklärte sie. "Am Anfang können Sozialarbeiter noch versuchen, den Eltern zu helfen, aber in manchen Fällen sind die Eltern das Problem." Das scheint auch bei Connor der Fall zu sein, wenn man seiner Mutter glaubt.

Zu dick für die Schuluniform

"Ich weiß schon, welches Essen dick macht und welches nicht", gibt sie zu. Es sei jedoch schwierig, weil ihr Junge weder Obst noch Gemüse oder Salate anrühre. "Es ist sehr schwierig, denn wir sind darauf beschränkt, was er mag, und er mag eben Pommes Frites und Kartoffelbrei. Ich versuche ihm schon gesünderes Essen beizubringen, aber 90 Prozent davon isst er einfach nicht." Selbst wenn sie versuche streng zu sein, hole er sich seine Leckereien eben anderswo: "Die Leute auf der Straße füttern ihn." Wenn man nicht aufpasse, stopfe er so viel in sich hinein, bis ihm schlecht werde.

Connors Gesundheitsprobleme sind unübersehbar: Oft muss er den fünfminütigen Weg zur Schule abbrechen, weil er außer Atem gerät oder sich übergeben muss. Nachts leidet er unter Atemnot, und ständig hat er Nasenbluten.

"Hoffentlich eine Krankheit"

"Er war immer schon ein großer Junge", betonte Mutter Nicola. "Als Baby musste ich ihm stündlich die Flasche geben, weil er immer vor Hunger plärrte, mit 18 Monaten trug er Kleidung für Fünfjährige." Heute muss er als einziger in der Klasse keine Schuluniform tragen - es gibt keine in seiner Größe.

Die Mutter hofft, dass Connor "eine Krankheit oder ein Syndrom hat, damit man ihm eine Tablette oder irgendeine Behandlung geben kann, damit das aufhört". Connors Großmutter Barbara Bake ist ohnehin überzeugt davon, dass es "die Hormone oder eine Lebensmittelunverträglichkeit" seien, die ihren Enkel derart haben anschwellen lassen.

Nicola McKeown glaubt nicht, dass sie ihr Kind misshandelt. "Wenn er misshandelt wäre, dann würde ich doch nicht jedes Mal aufspringen und ihm etwas zu essen machen, sobald er nur winkt", meinte sie. Der Kinderarzt Michael Markiewicz hingegen ist anderer Meinung: "Sie lieben ihn", gestand er der Mutter und der Großmutter von Connor zu, "aber sie lieben ihn eben zu Tode. So wie sie ihn behandeln und füttern, bringen sie ihn ganz langsam und allmählich um."

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