Süddeutsche Zeitung

Demenzkranke:Klänge gegen das Vergessen

  • Etwa 1,5 Million Menschen in Deutschland leiden an Demenz, jährlich kommen um die 300 000 dazu.
  • Heilen kann man die Krankheit trotz intensiver Forschung nicht. Ein kindlicher Ansatz kann zumindest helfen.

Von Titus Arnu, Köln

So ein Rollator kann ein ziemlich guter Tanzpartner sein. Er gibt einem nie einen Korb, passt sich jeder Schritttechnik an und macht praktisch nie schlapp. Die kleine grauhaarige Dame auf der Tanzfläche hat beim Cha-Cha-Cha jedenfalls einen Riesenspaß mit ihrem Rollator.

Sie erinnern zwar nicht, was sie mittags gegessen haben - aber die Melodie von "Griechischer Wein"

"Und jetzt: Rock'n'Roll!" ruft Georg Stallnig, der Tanzlehrer, ins Mikro. Kein Problem für Frau L. und ihr Fahrgestell: Rollatoren sind für Rock'n'Roll geradezu ideal.

In der Wolkenburg, einem festlichen Ballsaal im Zentrum Kölns, herrscht an diesem Novemberabend Hochstimmung. Aus den Boxen kommt ein Schlager, und 120 Besucher singen lauthals mit: "Korn-blu-men-blau!" Die Menschen, die sich zur Veranstaltung "Wir tanzen wieder" getroffen haben, sind 60 bis 90 Jahre alt und mittel- bis hochgradig dement. Sie wissen zwar nicht mehr, was sie mittags gegessen haben und wo rechts und links ist - aber wie die Melodie des Schlagers "Griechischer Wein" geht, das wissen sie noch genau. Manche sitzen singend im Rollstuhl, manche sind körperlich noch so fit, dass sie im Walzertakt übers Parkett wirbeln. Die Herren tragen Anzug, Hemd und Krawatte, die Damen festliche Kleider. Einer der Tänzer hat einen Zylinder auf dem Kopf, einen bunten Anzug an und eine rote Pappnase im Gesicht. Ja, ist schon wieder Karneval?

Das hier ist nicht der übliche Senioren-Tanztee mit schlechter Musik und Gebäck

Der Mann, der hier den "Tanzclown Pfiffikus" gibt, heißt Stefan Kleinstück und ist eigentlich Koordinator eines Kölner Demenz-Servicezentrums. 2007 hatte er die Idee, Demenzkranke zum Tanzen zu bringen. Und zwar nicht so wie beim Tanztee im Seniorenheim, bei dem Volksmusik aus einer schlechten Stereo-Anlage scheppert, während die Bewohner Kuchen essen. "Eine festliche, außergewöhnliche Atmosphäre bekommt man im Altenheim einfach nicht hin", sagt Kleinstück. "Wenn man dagegen zu den Leuten sagt, ,komm, wir gehen tanzen!' und sich dann in so einem schönen Saal in festlicher Garderobe trifft, dann weckt das ganz andere Gefühle."

Demenz ist eine der großen Volkskrankheiten. Etwa 1,5 Million Menschen leben in Deutschland mit dieser Erkrankung, die Stück für Stück verschiedene Hirnareale zerstört. Jedes Jahr zählt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft 300 000 Neuerkrankungen. Eine Heilung ist trotz intensiver Forschung bislang nicht möglich. Musik kann auf Demenzkranke allerdings wie ein Transformator wirken, sie verändert nicht die Gesamtsituation, aber die Grundstimmung.

Ein fast kindlicher Zugang zur Heilung: Fühlen statt Wissen

Dass Bewegung hilft, die Demenz etwas hinauszuzögern, wie eine Untersuchung der Deutschen Sporthochschule in Köln herausfand, ist dabei ein willkommener Nebeneffekt. Deshalb sei es wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem die Krankheit mal keine Rolle spielt, findet Stefan Kleinstück. Die Wolkenburg bietet das: mit Kronleuchtern, festlich gedeckten Tischen und einer geräumigen Tanzfläche.

Kleinstück alias Clown Pfiffikus und Tanzlehrer Stallnig locken die Leute mit allen Tricks aus der Reserve. Sie duzen, drücken, herzen und fordern zum Tanzen auf. Und damit wirklich alle mitmachen, legen sie zwischendurch Kölner Karnevals-Klassiker auf. "Wenn man zu viel nachdenkt, kann man schlecht tanzen", sagt Georg Stallnig. "Wer dement ist, denkt überhaupt nicht nach, wie ein Schritt geht, er versucht es einfach." Es ist ein fast kindlicher Zugang: Fühlen statt Wissen.

Aus dem Kölner Experiment ist eine bundesweite Initiative geworden, 13 Standorte, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Norddeutschland, bieten mittlerweile Veranstaltungen nach dem Muster von "Wir tanzen wieder" an. Dabei ist den Initiatoren wichtig, dass es nicht um Tanzen als Therapie geht, auch nicht um Unterricht. "Wir erklären ja nicht, wie der Cha-Cha-Cha geht", sagt Georg Stallnig, "wir sagen nur: Lasst uns tanzen!" Es geht um Vernetzung: Hier begegnen sich demente Senioren, Betreuer und Verwandte; Menschen unterschiedlicher Generationen und mit unterschiedlichen Rollen kommen unkompliziert miteinander in Kontakt.

Warum die alte Dame lieber mit mit ihrem Rollator schunkelt? Weil sie der Chef sein kann

Für Betreuer und Verwandte ist es ein ziemlicher Aufwand, die Demenzkranken in den Ballsaal mitten in der Kölner Altstadt zu bringen, die Gäste kommen mit Bussen aus Senioreneinrichtungen aus der Region rund um Köln. Aber wer die leuchtenden Augen und roten Wangen der Tänzerinnen und Tänzer sieht, weiß: Es lohnt sich. "Wenn sie die Musik von früher hören, kommen so viele Emotionen hoch", sagt Angie Stiak, Betreuerin aus dem St. Anna-Haus der Caritas Hürth. Sie ist mit neun Teilnehmern angereist, die sich gerade auf der Tanzfläche daran erinnern, wie der Cha-Cha-Cha ungefähr geht. Eine Frau tanzt mit ihrem Stoff-Seehund im Arm, den sie auch nicht weglegt, als sie Georg Stallnig zum Tänzchen auffordert.

Zwischen zwei Titeln kann man ein Paar beobachten, das sich zärtlich auf die Wangen küsst. Sie wirken verliebt. "Das ist das Schöne hier, die Leute werden aktiv und gehen auf andere zu", sagt Angie Stiak. Auch für die nicht dementen Teilnehmer ist das eine gute Erfahrung: "Das ist dann keine Pflegebeziehung mehr, die manchmal belastend sein kann, sondern eine beschwingte Tanzbeziehung", sagt Stefan Kleinstück. Nur die Rollatoren-Frau schunkelt nach wie vor lieber mit ihrem Metallpartner, obwohl sie körperlich fit genug wäre, auch mit einem Herrn zu tanzen. Einmal habe er sie aufgefordert, erzählt Kleinstück, doch nach einer Runde wollte sie zurück zu ihrem Rollator. Die Begründung der Dame: "Früher musste ich immer so tanzen, wie mein Willi wollte, jetzt tanze ich so, wie ich will." Der Rollator als Ideal-Ehemann auf Rollen, der nie widerspricht.

Nach zweieinhalb Stunden ohne Tanzpause wirken die Teilnehmer des Balls erschöpft. Die Senioren haben Schlager aus den Fünfzigern mitgesungen und sind zu Hip Hop im Kreis gehüpft. Was sie gesungen haben, wen sie getroffen haben und welche Titel sie gehört haben, werden die meisten von ihnen schon am nächsten Morgen vergessen haben. "Wir bekommen aber immer wieder Rückmeldungen von Betreuern und Angehörigen, dass das Tanzen die Leute doch nachhaltig beeinflusst", sagt Stefan Kleinststück. Das Glücksgefühl halte länger an als nur ein paar Stunden: "Sie wissen zwar nicht mehr, wo sie waren, aber sie spüren, dass es schön war."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2725504
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.11.2015/max
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.