Debatte um Ermittlungen im Fall Kampusch:"Demütigend, beleidigend, unfassbar"

Das Trauma findet kein Ende: Nach einer Jugend im Verlies konnte sich Natascha Kampusch 2006 aus der Gefangenschaft von Wolfgang Priklopil befreien. Seither streiten Behörden über Ermittlungsfehler und Verschwörungstherorien. Das Opfer muss sich erklären, um in der Debatte nicht völlig unterzugehen.

Cathrin Kahlweit

Es wird eine Neuauflage geben, so viel ist sicher. Der Fall des Entführungsopfers Natascha Kampusch, der doch eigentlich der Fall ihres Entführers Wolfgang Priklopil ist, wird in die nächste Runde gehen. Wieder einmal, nach all den Jahren.

Natascha Kampusch

3096 Tage verbrachte Natascha Kampusch in einem Kellerverlies. Aus ihrer Gefangenschaft konnte sie sich 2006 befreien - doch die öffentliche Auseinandersetzung hält sie bis heute fest.

(Foto: dpa)

Ob die Ermittlungen wieder aufgenommen werden, entscheidet sich endgültig erst Ende März, wenn der geheime Parlamentsausschuss, der seit drei Monaten in Wien die Akten durchforstet, seine Arbeit offiziell beendet hat. Doch bereits jetzt sind Stimmen aus dem Gremium zu hören, die beteuern, es sei "auszuschließen, dass wir diesen Aktendeckel noch einmal zumachen". Eventuell sollen das amerikanische FBI oder das deutsche Bundeskriminalamt hinzugezogen werden, auch wenn man zumindest in Wiesbaden bisher keine offizielle Anfrage verzeichnet hat.

Unterdessen werden zahlreiche Theorien wieder genährt, uralte, alte und neue: Natascha Kampusch war während ihrer Gefangenschaft schwanger. Das Kind lebt heute bei der Schwester des Freundes von Priklopil, Ernst H. Aus Scham deckt Kampusch einen Pädophilenring. Pornographische Filme wurden im Verlies gedreht und durch einen Freund von H., einen pensionierten Oberst, vertrieben. Ernst H. war mithin Mitwisser und Nutznießer der Tat. Es gab einen weiteren Täter, dessen DNA im Entführungsauto gefunden worden ist. Wolfgang Priklopil ist ermordet worden.

Die junge Frau, die 1998 auf dem Schulweg gefangen und acht Jahre lang eingesperrt wurde, ist darüber fassungslos. Und die österreichische Justiz macht sich bereits auf eine neue Schlammschlacht gefasst. Andererseits: Im Grunde tobt der Deutungskrieg zwischen Polizei und Staatsanwalt, ehemaligen und aktuellen Ermittlern, Politikern und Psychologen sowie einer Heerschar selbsternannter Spurensucher bereits, seit sich Natascha Kampusch, damals 18-jährig, am 23. August 2006 aus ihrem Gefängnis in Strasshof befreien konnte.

Dass die Sache bereits mehrmals untersucht wurde, ist vor allem ein Indiz für das erschreckende und abgrundtiefe Misstrauen der beteiligten Behörden und politischen Instanzen untereinander: 2006 untersucht die Polizei den Fall. Als die Gerüchte nicht verstummen, man habe zu schnell die Aktendeckel zugeklappt - womöglich um pädophile Politiker und Juristen zu schützen - wird 2008 vom Innenministerium eine Evaluierungskommission eingerichtet, geleitet von den ehemaligen Richtern Ludwig Adamovic und Johann Rzeszut. Sie stellt Ungereimtheiten fest. Die Ermittlungen werden neu aufgerollt.

Rätselhafter Tod des Chefermittlers

Der Grazer Oberstaatsanwalt Thomas Mühlbacher wird zur Überprüfung der Ergebnisse eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein zweites Mal ein. Der Chefermittler der Polizei, Franz Kröll, spricht ebenfalls von Ungereimtheiten; er stirbt, mutmaßlich durch Selbstmord. Gerüchte von Mord machen die Runde. Das Mitglied der früheren Evaluierungskommission, Rzeszut, initiiert eine Strafanzeige gegen fünf zuständige Staatsanwälte, darunter Mühlbacher, wegen des Vorwurfs des Amtsmissbrauchs; sie hätten, sagt er wenig überraschend, nicht ausreichend genau ermittelt. Der Vorwurf wird 2011 von der Innsbrucker Staatsanwaltschaft überprüft, das Verfahren eingestellt. Weil die Gerüchte nicht verstummen und alle Theorien weiter befeuert werden, nimmt sich im Dezember 2011 der "Stapo-Ausschuss" des Nationalrats der Sache an.

Während die einen immer wieder beteuern, alles sei tausendmal überprüft, alle Vorbehalte seien mit logischen Argumenten widerlegt, sagen die anderen: Nichts ist widerlegt, die Zweifel bleiben. Haben also Dutzende Polizisten und Staatsanwälte absichtlich Lücken gelassen, damit nicht wahr wird, was nicht wahr sein darf - Natascha Kampusch als Opfer einer Missbrauchsverschwörung? Musste gar ein Polizist, der nicht schweigen mochte, sterben? Rzeszut etwa beharrt bis heute darauf, die einzige Zeugin der Entführung habe zwei Leute gesehen: einen, der Kampusch in den Wagen zerrte, einen, der am Steuer saß. Vielleicht irrte sie sich schlicht?

Streit im "Psychotop"

Am vergangenen Sonntagabend - einen Tag, bevor sich Kampusch selbst zu Wort meldet - sitzen einige der Protagonisten der aktuellen Debatte in einer Talkshow zusammen: die FPÖ-Politikerin Dagmar Belakowitsch-Jenewein aus dem Geheimausschuss, Rzeszut, der die These von den Ermittlungsfehlern vehement weitertreibt, Mühlbacher, der Ermittlungsfehler ebenso vehement bestreitet. Es geht so hoch her, dass ein zugeschalteter Gerichtspsychiater von einem "Psychotop" spricht - er meint offenbar ein Biotop der Psychotiker. Offenbar, sagt er, könnten nur erneute, ins unbeteiligte Ausland verlagerte Untersuchungen den Verdacht aushebeln, dass hier nachlässig oder absichtlich in die falsche Richtung ermittelt wurde.

Aber auch das dürfte nicht reichen: Belakowitsch-Jenewein beharrt in der Sendung darauf, dass dem Ausschuss Akten vorenthalten worden seien: "Wer hatte ein Interesse daran, dass die Parteien frisierte Akten bekommen?", ruft sie in die Runde. "War das die Staatsanwaltschaft, das Ministerium, das Kabinett?" "Und wenn das FBI die Akten hätte, hieße es doch wieder, die seien vorher frisiert worden", brüllt jemand. "Das hört doch nie auf."

In Innsbruck sitzt derweil die Leiterin der Staatsanwaltschaft, Brigitte Loderbauer, und schüttelt ratlos den Kopf. Sie war verantwortlich für die Ermittlungen gegen die fünf Kollegen, die wegen Amtsmissbrauchs in der Causa Kampusch angezeigt worden waren. "Jeder Nagel in diesem Verlies ist auf DNA-Spuren untersucht worden, Ernst H. ist stundenlang verhört worden, wir haben quasi in den Akten gelebt - es gibt keinen Hinweis auf einen zweiten Täter." Ihr tue Natascha Kampusch leid, sagt Loderbauer, "diese junge Frau ist das Opfer, das wird gern vergessen."

Diese junge Frau gibt mitten in dem Trubel um ihre Person selbst ein Interview im ORF und sagt, um Fassung bemüht, ihre aktuelle Situation sei "seltsam, demütigend, beleidigend, unfassbar, unglaublich". Man stelle sie als Lügnerin dar. Sie habe ein Recht auf Privatsphäre, deshalb habe sie nie über sexuelle Details geredet, aber natürlich würde sie niemals, wirklich niemals etwaige Pädophile schützen: "Ich würde nie verhindern, dass solche Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden."

Kampusch versucht, einige der Vorwürfe auszuräumen: Sie habe nie einen zweiten Täter gesehen. Und sie sei nie schwanger gewesen, beteuert sie; ein Buch über Säuglingspflege, das in ihrer Kellerkammer lag, sei altes Lesematerial vom Dachboden des Entführers gewesen. Die Locke, die man bei ihr gefunden habe, stamme nicht von einem Kind. "Die habe ich aufgehoben, da der Täter mir die ganze Kopfhaut abrasiert hatte und ich eine Glatze hatte, damit ich oben im Haus für ihn arbeiten konnte und man keine Haare findet." An dieser Stelle stockt Kampusch; sie ist äußerlich um Gelassenheit bemüht und kann doch beim Erzählen nicht umhin, in ihrem Inneren Bilder zu sehen. Bilder aus einem winzigen Kellerraum, in dem sie ihre Jugend verbrachte.

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