Debatte nach Amoklauf in Aurora:Riskantes Thema für Romney und Obama

Nach dem ersten Schock über die Bluttat von Aurora diskutieren Amerikas Intellektuelle, wieviel Bühne man einem Amokläufer geben soll - oder ob die Medien die Täter ignorieren sollten. Befremdlich wirkt für Europäer die (Nicht-)Debatte über das Waffenrecht.

Lena Jakat

Drei Tage sind vergangen, seit ein Mann in Aurora bei Denver einen Actionfilm in realen Horror verwandelt hat, als Präsident Barack Obama am Sonntag Verletzte des Kino-Massakers im Krankenhaus besucht. "Ich hatte Gelegenheit, einige Umarmungen zu schenken und Tränen zu vergießen", sagt er in einer kurzen Rede am Abend. Der Schuldige werde "die volle Wucht des Gesetzes zu spüren bekommen". Was er Opfern und Hinterbliebenen auch noch versprochen haben soll: James Holmes, den mutmaßlichen Amokschützen, der seit der Tat in Polizeigewahrsam ist, nicht beim Namen zu nennen. Was absurd wirkt angesichts der Omnipräsenz des 24-Jährigen auf Fernsehschirmen, im Netz und auf den Titelseiten der Zeitungen, soll ein Zeichen des Mitgefühls sein, soll zeigen: Ich will diesem Mann keine Bühne bereiten.

Der Präsident steigt damit in eine Debatte ein, die seit dem Tag des Massakers von Aurora vor allem linke Blogger und Intellektuelle in den USA führen. Sie dreht sich um die Logik der Aufmerksamkeit.

Schon am Tag der Tat versuchte Paul Campos, Rechtsprofessor an der University of Colorado in Boulder, den Amoklauf in Aurora nüchtern in Relation zu setzen. Auf der progressiven Debatten-Webseite Salon.com schreibt Campos: "Viele Menschen - ungefähr 15.000 zur Zeit - werden jedes Jahr in den Vereinigten Staaten getötet. Die meisten dieser Menschen werden in Orten umgebracht, die, grob gesagt, ziemlich so aussehen wie Aurora: Orte, wo die Menschen ärmer und weniger weiß sind als im US-Durchschnitt, und die deswegen per Definition nicht sehr interessant oder wichtig sind."

Während Campos noch die ungleiche Verteilung von Aufmerksamkeit kritisierte, trat bald ein anderer Aspekt in den Vordergrund. In seinem Kommentar für die New York Times rückte der vielfach preisgekrönte Filmkritiker Roger Ebert den Fokus zurecht. Der mutmaßliche Schütze, schreibt Eberts, "muss verrückt gewesen sein und sein innerer Terror drückte sich aus - wie es das heute oft tut - in einer Verbindung von Popkultur und Schusswaffen." Aber, führt Ebert aus, "ich bin mir nicht sicher, dass es eine einfache Verbindung zwischen Kinofilmen und Schießereien gibt. Ich denke die Verbindung besteht zwischen der Gewalt und der Aufmerksamkeit. Filmmaterial über den Schützen läuft in Endlosschleife. Irgendwo draußen in der Nacht, unter denen, die zuschauen, ist ein anderer wütender, bedrückter Einzelgänger, den es zum Handeln drängt."

Doppelte Strafe für die Gesellschaft

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und kam von Journalist und Philosoph Robert Wright. Wenn man davon ausgehe, dass es sich bei Schützen wie dem aus Aurora um einen ebensolchen Einzelgänger handelt, der sich in seiner Einsamkeit selbst radikalisiert, schreibt Wright im intellektuellen Monatsmagazin The Atlantic, bestrafen diese Täter "die Gesellschaft doppelt dafür, dass sie sie ignoriert hat - sie bringen ein paar Leute um und zwingen den Rest, sie endlich anzusehen." In der Konsequenz fordert er die Medien dazu auf, eine Selbstverpflichtung einzugehen und diesen Tätern keine Bühne mehr zu bieten, keine Bilder mehr von ihnen zu zeigen.

Eine solche Selbstverpflichtung mag zwar eine schöne Idee sein, aber unrealistisch, urteilt J.J. Gould. Ebenfalls in der Online-Ausgabe des Atlantic schlägt der Journalist ein anderes Regulativ für die Ökonomie der Aufmerksamkeit vor: Zum einen appelliert er an die "besseren Medien", jene "anzugreifen und bloßzustellen, die für gesellschaftliche Ausbeutung verantwortlich sind". Zum anderen wendet sich Gould an die digitale Öffentlichkeit und fordert sie auf, in den sozialen Netzwerken unangemessene täterzentrierte Berichterstattung anzuprangern. "Jeder mit einem Twitter-Zugang kann heute alle Medienhäuser mit diesem Thema konfrontieren", schreibt Gould.

Ist im Lichte dieser kritischen Beiträge Obamas Schweigen also lobenswert und der Präsident als gutes Beispiel zu nennen?

Im Gegenteil, findet John Cassidy vom liberalen Kultur- und Nachrichtenmagazin New Yorker. "Es lässt sich argumentieren", schreibt Cassidy, "dass das Problem mit wildgewordenen Massenmördern nicht ist, dass sie zu viel Aufmerksamkeit erhalten. Das Problem ist, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen." In einer langen Liste zählt er Orte und Jahreszahlen vergangener Amoktaten auf, deren Täter längst in Vergessenheit geraten sind.

Dabei, könne die "Dämonisierung verrückter Schützen" einem politischen Zweck dienen, schreibt Cassidy und schlägt den Bogen zu dem anderen großen Thema, das Amerikas Intellektuelle seit dem Amoklauf am vergangenen Freitag umtreibt: zur Diskussion um laxe Waffengesetze. "Die Debatte zu personalisieren, motiviert die Öffentlichkeit und ermöglicht es Politikern, sich der Waffenlobby entgegenzustellen", schreibt der Journalist. Er verwehrt sich dagegen, Obamas Schweigen in der Debatte als Realpolitik resigniert hinzunehmen. "Amerikas skandalöse Waffengesetze brauchen mehr als eine hektisch vereinbarte Sympathiegeste für die Opfer der Industrie, die sie stützen. Sie verlangen Mut, Ehrlichkeit und öffentliche Auseinandersetzung."

Obama und Romney schweigen zu Waffengesetzen

Doch davon ist bislang nichts zu spüren. Zwar forderte New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg Obama und dessen republikanischen Herausforderer Mitt Romney unmittelbar nach der Tat auf, Stellung zu beziehen. "Vielleicht ist es an der Zeit, dass die beiden Menschen, die Präsident der Vereinigten Staaten werden wollen, aufstehen und uns sagen, was sie in der Frage tun werden", sagte Bloomberg. Doch auch in dieser Frage schwieg Obama. Und auch Romney hielt sich zurück.

Die Diskussion über schärfere Waffengesetze wird in den USA derart emotional und scharf geführt, dass es für Europäer befremdlich wirkt. Auch deswegen halten die Kontrahenden diese Debatte (noch) aus dem Wahlkampf heraus - sie haben Angst, Wählerstimmen zu verlieren.

"Ein Grund ist, dass sie nicht aussehen wollen, als würden sie eine wahre Tragödie für politische Zwecke instrumentalisieren. Aber es ist unbestreitbar auch so, dass Waffenkontrolle ist ein sehr riskantes Thema ist", konstatiert Nate Cohn vom Polit-Magazin The New Republic, dass am linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist. Er sieht jedoch eine Chance für den Demokraten Obama, in der aktuellen Diskussion Stellung zu beziehen, ohne konservative Wähler zu verschrecken, wenn er sich für ein "Verbot von Schnellfeuerwaffen" einsetzen würde.

Einer ähnlichen Argumentation folgt Amy Davidson. Der Bloggerin des Magazins New Yorker greift diese rein politische Dimension zu kurz. "Sind Amerikas irrwitzige Waffengesetze ein loses Ende? Unsere Politiker behandeln sie eher wie eine Schlinge: ein Mittel zum politischen Selbstmord. Sie müssen damit aufhören, denn Menschen sterben und ihr Tod ist nicht metaphorisch. Wie viele Leben ist ein sicherer Sitz im Kongress oder im Weißen Haus wert?", fragt Davidson provokant.

Wie häufig nach solchen Bluttaten war das Hauptargument der Waffenlobby und allen voran der National Rifle Association NRA auch nach dem Amoklauf in Aurora schnell bei der Hand: Hätten mehr Menschen im Kinosaal eine Waffe getragen, wären womöglich auch weniger gestorben. Welche Taktiken diese mächtige Lobby außerdem verfolgt und wie erfolgreich sie damit in weiten Teilen der Vereinigten Staaten ist, hat Rick Schmitt vom linksliberalen Magazin Mother Jones zusammengetragen. Eine detaillierte Karte zeigt, in welchem Bundesstaat welche Waffengesetze gelten. Eindringlich warnt der Autor vor einem "Wetteifern um die lockersten Waffengesetze" zwischen den Bundesstaaten. "Das Argument der Waffenlobby für großzügige Gesetze war schon immer, dass eine bewaffnete Gesellschaft für eine sicherere Gemeinschaft sorgt", schreibt er. Es gebe jedoch keinerlei Daten, die dies belegten.

Den extremen Meinungen die Diskussion zu überlassen, davor warnt Robert V. Taylor von der Huffington Post: "Ich bin besorgt über die verzweifelte Hilflosigkeit, mit der so viele Politiker es ablehnen oder Angst davor haben, das Thema anzusprechen; oder die Debatte ist von festgefahrenen Argumenten so polarisiert, dass ihre Stimme unerheblich ist. Aber haben wir das nicht uns selbst zuzuschreiben, mit unserem eigenen Schweigen?" Taylor appelliert an die Öffentlichkeit, die Debatte durch den Austausch ziviler Argumente und den Respekt für die Meinung anderer auf eine rationale Ebene zu holen.

"Der Mörder ist selten, was er zu sein scheint."

Zum Innehalten fordert auch Dave Cullen auf, doch sein Appell geht in eine andere Richtung. Cullen hat zehn Jahre lang über das Schulmassaker von Columbine 1999 recherchiert und einen Bestseller darüber geschrieben. In einem Beitrag für die New York Times warnt Cullen davor, voreilige Schlüsse über den Täter zu ziehen: "Menschen, die Massenmorde begehen, sind üblicherweise ganz anders als unsere Wahrnehmung von ihnen. Sie sind ganz anders als eine Vision des reinen Bösen. Sie sind kompliziert", schreibt der Autor und illustriert diese These mit Dylan Klebold. Im Tagebuch des damals 17 Jahre alten Columbine-Schützen finden sich seitenweise gemalte Herzchen und verschnörkelte "I Love Yous".

Entschieden verwehrt sich Cullen gegen Spekulationen über Hintergrund und mögliches Motiv der Bluttat von Aurora: "Glauben Sie davon nicht ein Detail. Mr Holmes wurde bereits als Einzelgänger beschrieben. Jedes Mal, wenn Sie anfangen, zu glauben, wir sind soweit, das brennende 'Warum?' beantworten zu können, denken Sie an Dylans Herzen. Der Mörder ist selten, was er zu sein scheint."

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