Das Leben der Inzest-Kinder:Beten und schweigen

Leben im Niemandsland: Wie Inzest-Kinder mit ihrem Schicksal fertig werden und wie die Gesellschaft mit den Opfern umgeht - eine Betroffene erzählt.

Kerstin Conz

Beim Anblick von Josef Fritzl packt Ulrike Dierkes der Ekel. "Ich weiß genau, was da abgeht", sagt die 50-Jährige und wendet sich von der Zeitung ab. "Ich bin kein Monster", steht dort in der Überschrift. Dierkes hat kein Mitleid mit dem Täter von Amstetten.

Das Leben der Inzest-Kinder: Im Jahr 2008 kam in Österreich ein furchtbares Verbrechen ans Licht: Eine Chronik in Bildern des Dramas von Amstetten.

Im Jahr 2008 kam in Österreich ein furchtbares Verbrechen ans Licht: Eine Chronik in Bildern des Dramas von Amstetten.

(Foto: Foto: dpa)

Josef Fritzl muss sich seit Montag vor Gericht verantworten. Die Vorwürfe: Unter anderem Vergewaltigung, Sklavenhandel, Nötigung - und Mord. Inzwischen hat sich der Inzest-Täter in allen Punkten schuldig bekannt.

Fritzl wird vorgeworfen, im August 1984 seine damals 18-jährige Tochter in den Keller des Mehrfamilienhauses im niederösterreichischen Amstetten verschleppt zu haben. Während ihrer Gefangenschaft zeugte er mit ihr sieben Kinder, von denen eines kurz nach der Geburt starb.

Ulrike Dierkes ist selbst Inzest-Kind. Sie wurde geboren, weil ihr Vater nach jahrelangem Missbrauch seine 13-jährige Tochter Marina schwängerte. Ihr Schicksal hat die Journalistin später in dem Buch "Schwestermutter" aufgearbeitet.

Nichtbetroffene können sich kaum vorstellen, was es heißt, das Produkt eines Verbrechens zu sein, schreibt sie darin. Viele Mädchen und deren Kinder müssten lebenslang darunter leiden.

Sie selbst wusste jahrelang nichts von ihrer Herkunft. Jahrelang glaubte sie, Marina sei ihre Schwester. Deshalb der Buchtitel. Schwestermutter.

Seit dreizehn Jahren setzt sich Ulrike Dierkes nun mit ihrem Verein Melina für Inzest-Opfer ein. Im vergangenen Jahr wurde sie dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Das Doppelleben des Vaters

Davor stand ein langer Leidensweg. Er begann für das Inzest-Kind Ulrike vor 50 Jahren in Ostbevern, einem Bauerndorf in Westfalen: Der Vater war ein angesehener Kunstmaler und ehrenamtlicher Schöffe. Doch hinter der bürgerlichen Fassade führte er ein Doppelleben: Seit ihrem siebten Lebensjahr musste Tochter Marina als Nacktmodell herhalten.

Man braucht kein Verließ wie in Amstetten, um das Opfer zu isolieren, sagt Dierkes. Ein Täter kann die Familie auch anders kontrollieren. "Wehe, du sagst was", bläute der Vater Marina ein. "Dann komme ich ins Gefängnis und du ins Heim." Intelligente Täter seien am Schlimmsten. Oft narren sie die Nachbarn jahrelang. In vielen Fällen leben sie sogar noch mit den Inzest-Kindern unter einem Dach.

Auch Ulrike Dierkes wuchs in der Familie des Täters und dessen Frau auf. Der Dorfpfarrer riet der Ehefrau, zu beten und zu schweigen. Um die Familie zu "retten", schmiedete das Ehepaar den Plan, die Tochter Marina als leichtes Mädchen hinzustellen, das auf dem Sportplatz vergewaltigt wurde - Vater unbekannt. Bis heute eine gängige Praxis in Täterfamilien. Die Nachbarn tuschelten zwar, doch geholfen hat zunächst niemand.

"Inzest passiert rotzfrech mitten unter uns", sagt Ulrike Dierkes. Früher waren die behinderten Inzest-Kinder als "Dorfdeppen" ganz normal. Doch auch heute könne Inzest praktisch überall vorkommen. Während in der Anonymität der Großstadt das Treiben der Nachbarn oft untergeht, könne man sich so etwas in einer Kleinstadt oder auf dem Dorf einfach nicht vorstellen. "Man will sich die Idylle nicht nehmen lassen", glaubt Dierkes.

Die Rückkehr des Peinigers

Egal ob in Amstetten oder anderswo: Wer solche Verbrechen aufdeckt oder darüber berichtet, ist nirgendwo gerne gesehen. Man sorgt sich um den guten Ruf.

Das Leben der Inzest-Kinder: "Keiner kann sich vorstellen, was es heißt, das Produkt eines Verbrechens zu sein": Ulrike Dierkes setzt sich für Inzest-Opfer ein.

"Keiner kann sich vorstellen, was es heißt, das Produkt eines Verbrechens zu sein": Ulrike Dierkes setzt sich für Inzest-Opfer ein.

(Foto: Foto: oh)

Für Ulrike war das Leben in der Täterfamilie traumatisch. Mit ihren strahlend blauen Augen erinnerte sie einerseits ihre leibliche Mutter stets an den Peiniger, andererseits ihre Großmutter, die eifersüchtige Ehefrau, an den Betrug mit der eigenen Tochter. Mit ihrer leiblichen Mutter hat die heute 50-Jährige keinen Kontakt. "Sie hat ihr Leben und ich meines."

Eine normale Mutter-Kind-Beziehung ist den Opfern kaum möglich. Ulrike war der Beweis für die Schande, die der Vater über die Familie gebracht hatte. Hinzu kam, dass ihr Vater nach einem anonymen Hinweis doch noch zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Familie war in dem Dorf geächtet.

Wegen guter Führung wurde der Vater jedoch vorzeitig entlassen - und kam wieder in die Familie zurück. Für Marina begann das Martyrium von vorn - denn auch sie wurde zurück in die Familie geschickt. Für die Behörden immer noch die billigste Lösung.

Heute versucht man zwar, den Täter von der Familie zu trennen. Doch oft wird das Verbrechen gar nicht erst bekannt. Josef Fritzl konnte drei seiner Inzest-Kinder adoptieren, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

Die Alarmsignale

Dabei gibt es durchaus Alarmsignale, sagt Inzest-Opfer Dierkes: Wenn die Eltern bei einer Schwangerschaft mit unbekanntem Vater die minderjährige Tochter als leichtes Mädchen hinstellen, oder eine Hausgeburt ohne Zeugen abläuft, müsse man grundsätzlich die Familienverhältnisse hinterfragen, fordert sie. Auch Kindstötungen oder ausgesetzte Babys könnten ein Hinweis sein.

Obwohl Fritzl bereits wegen Vergewaltigung im Gefängnis gesessen hatte, kamen die Behörden ihm nicht auf die Schliche. Der Fall war verjährt, die Akte vernichtet. Mittlerweile wird in Österreich daher darüber nachgedacht, die Verjährungsfristen für Sexualverbrechen zu verdoppeln.

"Solche Verbrechen dürfen nie verjähren", fordert Dierkes. Denn oft trauen sich die Opfer erst nach Jahrzehnten an die Öffentlichkeit - wenn sie überhaupt von ihrer Herkunft erfahren. Neben den seelischen Verletzungen leiden viele lebenslang unter körperliche Schäden. Dierkes selbst hat ein Baby nach der Geburt verloren. Andere Kinder kommen behindert zur Welt und leiden unter Stoffwechselstörungen, Organschäden oder Deformationen.

Ulrike Dierkes hat Glück gehabt. Sie ist körperlich gesund und hat sich mit Hilfe von Therapien und durch ihre Bücher von Schuldgefühlen befreit. Sie ist mit ihrer eigenen Familie und drei gesunden Kindern glücklich. "Ich muss mich nicht dafür entschuldigen, dass es mich gibt", sagt die attraktive 50-Jährige selbstbewusst. Sie hat gelernt, mit ihrer Familiengeschichte umzugehen. Los wird sie sie niemals werden.

Jeden Tag melden sich Opfer

253 Kinder unter 14 Jahren wurden nach Angaben des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg im Jahr 2007 von einem direkten Verwandten sexuell missbraucht. 1997 waren es 179 Opfer. "Eine gewisse Dunkelziffer werden wir immer haben", sagte ein LKA-Sprecher. In aller Regel stoßen die Ermittler in der Familie auf eine Mauer des Schweigens.

Der seit dreizehn Jahren als gemeinnützig anerkannte Verein Melina Inzestkinder/Menschen aus Vergewaltigung e.V. setzt sich für die Betroffenen ein. Jeden Tag gehen bei Gründerin Ulrike Dierkes etwa fünf Anfragen von Opfern ein. Etwa 1000 Menschen greifen täglich auf die Internetseite www.melinaev.de zu. Die Selbsthilfegruppe betreut derzeit rund 50 Betroffene und hilft ihnen, Inzest-Schäden zu diagnostizieren und Entschädigungen einzuklagen.

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