In zwei Minuten kann sich die Welt verändern. Auf dem Erdboden und in den Köpfen der Menschen. Ungefähr zwei Minuten und dreißig Sekunden waren es an jenem Mittwoch, dem 18. April 1906, um fünf Uhr und zwölf Minuten in der Frühe in San Francisco, als sich schrecklich, todbringend das Bild der Welt veränderte, auf dem Erdboden dort und in den Köpfen der Überlebenden. Die Erde zuckte, brüllte, tobte. Sie bebte 150 Sekunden lang. Danach war alles anders in San Francisco.

Aber es gab keine Ruhe. Ein zweites der Urelemente war in Bewegung geraten, das Feuer, ebenfalls tobend, wütend. Als unaufhaltbare Walze zog es durch die Stadt, drei Tage lang, verwüstete, brannte fast alles nieder, was die bebende Erde hatte stehen lassen.
Als die Menschen wieder eingreifen konnten, sprengten sie wochenlang die noch stehenden, vom Einsturz bedrohten Ruinen.
Einer der ersten, die das Beben selbst minutiös protokollierten, war der englische Astronom George Davidson, der mit 81 Jahren kurz zuvor seinen Job als Geographieprofessor an der University of California aufgegeben hatte.
Er lag halb wach im Bett in seinem Haus in der Washington Street als es losging. Er stand auf und notierte, ganz Wissenschaftler, den Verlauf. Nur am Anfang seiner Aufzeichnungen steht eine Formulierung, die so etwas wie einen emotionalen Schock erkennen lässt. Er hatte das Rumpeln sofort als Erdbeben identifiziert: ". . . seine Auswirkung kann ich nur so beschreiben, dass es mir vorkam wie ein Terrier, der eine Ratte schüttelt.
Gezählte Sekunden
Ich lag im Bett, wurde aber durch die erste Erschütterung geweckt. Ich begann die Sekunden zu zählen, während ich zu dem Tisch ging, auf dem meine Uhr lag. Aufgrund einiger Übung konnte ich auf diese Weise ziemlich genau den Zeitpunkt bestimmen.
Der Stoß erfolgte um 5.12 Uhr. Die ersten sechzig Sekunden waren die schlimmsten. Dann ließ das Beben ungefähr dreißig Sekunden lang allmählich nach. Daraufhin trat eine kaum wahrnehmbare Stille ein. Dann ging das Beben sechzig Sekunden lang weiter, war in dieser Minute allerdings schwächer als in den vorausgegangenen anderthalb Minuten. Es folgten noch zwei leichtere Erschütterungen, die ich nicht mit der Uhr stoppte." Davidsons Darstellung wurde offiziell als die genaueste akzeptiert.
Unter den Menschen, die geblieben waren, um die 200.000 hatten die Flucht ergriffen, machte sich, neben dem Kampf ums Überleben, eine neue Mode breit, die dazu geführt hat, dass bis heute das Erdbeben von San Francisco seinen Platz im öffentlichen Bewusstsein erhalten hat und ihn nun, im Gedenkjahr, mühelos auffrischen kann.

Diese Mode war die Fotografie. George W. Eastman hatte 1888 den erschwinglichen Fotoapparat auf den Markt geworfen, 1889 ergänzt durch den von dem Geistlichen Hannibal Goodwin erfundenen Celluloid-Rollfilm. Jeder konnte jetzt knipsen. Das war zu einem Massensport geworden.
Fotogen
Nichts aber ist fotogener als Frauen und Katastrophen. Schier unschlagbar ist die Kombination beider. Das Beben von San Francisco ist das erste welterschütternde Unglück in der Geschichte von dem ungeheure, nie gezählte Mengen von Fotografien hergestellt wurden, die jetzt, 100 Jahre nach dem Great Earthquake wieder durchforstet und ausgestellt werden.
Da ist dann eine Merkwürdigkeit zu besichtigen, die sich durchgehalten hat bis in den Katastrophentourismus unserer Tage: der Schrecken als Kulisse, vor der die Menschen posieren. Das Dokument wird zum Theaterfoto.
Es wäre allerdings unüberlegt, dahinter allein gedankenlose Oberflächlichkeit zu vermuten. Die Fotos aus San Francisco haben auch die Funktion, mit der Katastrophe fertig zu werden. Oft zeigen sie ein trotziges "Hurra, wir leben noch, wir lassen uns nicht unterkriegen!"
Aber diese Bilder decken auch, ungewollt, etwas zu. Sie fixieren den Ort San Francisco als die Hauptstadt, den wichtigsten Ort des Katastrophenschreckens, verdecken damit, was sonst noch passiert ist in jenem Jahr. Sie nehmen vorweg, was heute mit der schnoddrigen Maxime gemeint ist "Wenn etwas nicht im Fernsehen, in den Medien zu sehen war, dann gab es das nicht wirklich".
Ein Jahr der Erdkatastrophen
Denn 1906 war ein Jahr der Erdkatastrophen wie noch keines der dokumentierten zuvor. Simon Winchester, Geologe und glänzender Autor, hat in seinem umfassenden Buch "Ein Riss durch die Welt. Amerika und das Erdbeben von San Francisco 1906" eindringlich darauf aufmerksam gemacht. Winchester nennt 1906 "eine der ungestümsten Zeitspannen des gesamten Jahrhunderts. Seine Liste (in Kurzform) sieht so aus:
1.) Am Morgen des 31. Januar ein gewaltiges Beben unter dem Meeresboden des Pazifischen Ozeans, das stärkste Beben, das bis zu jenem Zeitpunkt von menschlichen Apparaten je aufgezeichnet wurde, länger als vier Minuten. "Es traf viele Gemeinden entlang der südamerikanischen Küste, verwüstete Städte, überflutete Felder und verursachte riesige Wellen und gigantische Gegenfluten." Ecuador und Kolumbien litten am stärksten unter diesem Beben.
2.) 16 Tage später ein weiteres starkes Beben auf der Insel St. Lucia, das Epizentrum (das ist der Ort, der sich senkrecht über einem Erdbebenherd befindet) lag ungefähr 20 Meilen südlich vor der französischen Kolonie Martinique. Menschen kamen nicht ums Leben, aber eine zwei bis drei Wochen andauernde Serie kleiner Beben wurde ausgelöst. St. Lucia wurde danach zum gefährdeten Erdbebengebiet erklärt.
3.) Fünf Tage später: ein ungeheurer Erdstoß im Kaukasus, in der alten Stadt Schemacha, keine Toten.
4.) Vier Wochen später, am 1. März: "ein wahrlich gigantisches Beben", das die Insel Formosa (Taiwan) zerriss. "Dieses historische Ereignis", schreibt Winchester, "das als Chiayi- beziehungsweise Meishan-Erdbeben in die Geschichte einging, verschob das Land auf beiden Seiten einer neun Meilen langen Verwerfung im Westen der Insel um etwa zwei Meter in horizontaler und ungefähr einen Meter in vertikaler Richtung." 9000 Häuser stürzten ein, 2000 Verletzte gab es und 1228 Tote.
5.) Am 6. April brach der Vesuv aus, begann mit einer 12 000 Meter hohen Gesteinskanonade. Er feuerte zehn Tage lang, bis zum 16. April. Einige Vulkanforscher meinen, der Ausbruch sei heftiger gewesen als jener im Jahr 79, dem Pompeji und Herculaneum ihr petrifiziertes Dasein verdanken.
Zwei Tage Ruhe, in den Erdschichten jedenfalls. Dann kam der Morgen des 18. April, fünf Uhr zwölf, San Francisco.
Wir hätten nicht zu warten brauchen. Wir hätten schon am 31. Januar, vier Tage nach Mozarts 250. Geburtstag, eine Gedenkserie starten können. Über den Titel wäre zu streiten gewesen. Aber vielleicht hätte man sich einigen können auf "Gedenkjahr unruhige Erde".
Ein unruhiges Wesen
Denn darum geht es, geht es auch bei der Erinnerung an San Francisco 1906, die jetzt überall herbeizitiert wird. Die Erde, lange, trotz riesiger Katastrophen (Erdbeben Lissabon 1755 zum Beispiel, das viele vom Gottesglauben abfallen ließ) als ein für im Grunde sicheres Fundament des Lebens gehalten, ist in Wahrheit ein unruhiges, unsicheres Wesen.
Immer wieder versucht dieses Wesen, sich in Ordnung zu bringen. Nie gelingt das auf Dauer. Man könnte auch sagen: Die Erde ist eben lebendig.
Simon Winchester formuliert das etwas abgekühlter: "Sie ist ein viereinhalb Milliarden Jahre altes lebendes System." Lebende Systeme, die mit dem Prozess ihrer Selbsterhaltung beschäftigt sind, kümmern sich nicht um andere Systeme (die Menschen), die ebenfalls auf Selbsterhaltung aus sind.
Mächtige Kräfte
Erdbeben, Vulkanausbrüche werden sich nie verhindern lassen. Zu mächtig sind die Kräfte, die unsere Erde - ist sie wirklich die unsere? - in diesen Ausgleichsversuchen einsetzt. Das Bild, das wir von ihr haben, im strikten Sinn: unser Weltbild, werden wir ändern müssen.
Die Vorstellung, die Idee, die Vision von dem unerschütterlichen Fundament unter unseren Füßen, auf dem wir, von Religion und Philosophie beseelt, unangefochten von äußeren Mächten den aufrechten Gang erproben, muss aufgegeben werden.
Die Geologie, Erdkunde im umfassenden Sinn, ist zur neuen Fundamentalwissenschaft geworden, zur Wissenschaft unseres wirklichen Fundaments.
Die Beben sind keine nur dann und wann sich ereignenden Ausnahmen in der Geschichte einer ansonsten ruhigen Erde. Die Häufigkeit von Erdbeben, basierend auf den Beobachtungen seit 1900, beträgt für Stärke 1-2 rund 8000 täglich; für 2-3 rund 1000 täglich. In Jahren gerechnet wird erst von Stufe 3 an: für 3 ergibt das 49.000; für 4 geschätzte 6200, für 5 pro Jahr 800, für Stärke 6 pro Jahr 120; für 7 pro Jahr 18, für 8 und höher eines pro Jahr.
Die alte Erde unter unseren Füßen ist ganz schön munter. Bei diesem Befund feierlich nur eines dieser Ereignisse zu gedenken, erscheint dann doch als ziemlich beschränkt, es sei denn, die Gedenkfeiern ließen sich nutzen als Auslöser für die Beschäftigung mit diesem globalen Problem im Ganzen.
Da wäre als Erstes zu bedenken, wie grundsätzlich sich die Geologie seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewandelt hat. Winchester spricht in seinem Buch über San Francisco geradezu feierlich von der "Neuen Geologie", mit dem ersten Großbuchstaben mitten im Satz, so als sei das etwas Ähnliches wie ein Neues Testament.
Das kann man durchaus so sehen. Die "alte Geologie", die in ihrer wissenschaftlichen Form ein Kind der aufklärerischen Neugier des 18. Jahrhunderts ist, sammelte, beschrieb, klassifizierte und interpretierte die Oberfläche der Erde und alles, was sich für die Geschichte auf ihr finden ließ, zum Beispiel Berge und Gebirge, Steine, Fossilien und vieles mehr.
Es fehlt das präzise Bild vom Ganzen
Alles, was vor der Neuen Geologie zusammengetragen worden war, und das war wichtig genug, hatte mit der äußeren Schicht der Erde zu tun. Es fehlte ein großes, präzises Bild von der Erde im Ganzen, also auch von ihren Tiefenschichten, das alles zusammenfasste und die Befindlichkeit dieses lebenden Systems so in den Blick brachte, dass die Zusammenhänge der dramatischen Ereignisse und ihre mögliche weitere Entwicklung verständlich wurden.
Der britische Wissenschaftler James Lovelock zum Beispiel präsentierte 1979 seine Gaia-Hypothese, die gleichsam mit einem Blick aus dem Weltraum das System Erde als etwas Ganzes und Lebendiges auffasste, in dem alles miteinander sich in Wechselwirkung befand.
Die Neue Geologie aber verdankt sich hauptsächlich Tuzo Wilson, einem Professor aus Toronto, der mit seinen Schülern die Theorie der Plattentektonik entwickelte. Damit sind wir auch wieder bei den Erdbeben und Vulkanausbrüchen angekommen.
Riesige Platten
Unsere Kontinente und Ozeane schwimmen über dem heißen und flüssigen Inneren der Erde auf riesigen Platten, die sich bewegen, sich aneinander reiben, sich auf- und untereinander schieben, sich bekämpfen. Wenn man diese Plattenbewegungen studiert, versteht man Zusammenhänge und Ereignisse, die vor der Theorie der Plattentektonik nicht durchschaut werden konnten.
Tuzo Wilson kann als einer der wichtigsten Geburtshelfer der Neuen Geologie angesehen werden. Jetzt wissen wir, warum wir unsicher stehen auf der angeblich fest gegründeten Erde.
Auch das große Beben in San Francisco vor 100 Jahren ist nichts anderes gewesen als das schreckliche Kind rivalisierender Platten, die unser Leben bestimmen.