Das Jonestown-Massaker:Das verlorene Paradies

Vor 30 Jahren starben 913 Sekten-Mitglieder in Guyana, wo Sektenführer Jim Jones das Paradies auf Erden errichten wollte. Noch immer ist unklar, ob es Selbstmord war oder eine kollektive Tötung.

Jürgen Schmieder

"Bring dich um! An der Welt ist eigentlich gar nichts dran. Bring dich um!" Diese Sätze stammen aus dem Buch "Survivor" des amerikanischen Autors Chuck Palahniuk ("Fight Club"). In dem Buch geht es um das letzte Mitglied einer Sekte, alle anderen haben sich getötet. Die Geschichte orientiert sich an einem der schlimmsten Fälle von Massenselbstmord in der Geschichte der Menschheit - wenn es denn Selbsttötung war. Am 18. November 1978 starben 913 Menschen in einer landwirtschaftlichen Urwaldkolonie in Jonestown im südamerikanischen Guyana. Der Hergang ist bis heute unklar.

Das Jonestown-Massaker: Diese Bilder gingen um die Welt: Menschen in Jonestown fielen um, wo sie gerade standen.

Diese Bilder gingen um die Welt: Menschen in Jonestown fielen um, wo sie gerade standen.

(Foto: Foto: dpa)

Es waren schreckliche Bilder, die da vor 30 Jahren um die Welt gingen. Eine Mutter hielt ihr totes Baby im Arm, dann trat Schaum aus ihrem Mund, sie kippte einfach um. Ihr Ehemann wollte sie auffangen, aber auch er fiel tot zu Boden. Ein Videoteam filmte und fotografierte die Szene. Die Menschen starben qualvoll an mit Zyankali vergifteter Limonade. In der Mitte stand Jim Jones, der charismatische Gründer der Sekte Peoples Temple. Er redete auf die Menschen ein: "Wenn man uns nicht in Frieden leben lässt, so wollen wir jedenfalls in Frieden sterben. Der Tod ist nur der Übergang auf eine andere Ebene." Seine Sätze wurden langsamer, am Ende stammelte er nur noch. Dann war ein Schuss zu hören, Jones fiel zu Boden.

Was zunächst nach Massenselbstmord aussah, könnte auch Mord gewesen sein. Überlebende berichteten, dass um die Kolonie herum bewaffnete Wachen aufgezogen waren, etliche tote Sektenmitglieder hatten Schusswunden. Die 250 getöteten Babys und Kinder tranken das Gift nicht freiwillig, es wurde ihnen in den Mund gespritzt. "Sie haben uns einfach umgebracht", sagte das frühere Sektenmitglied Tim Carter im Film "Jonestown" von Stanley Nelson.

Einigen Menschen war zuvor die Flucht gelungen. Deborah Layton etwa, die heute für einen Finanzmakler in San Francisco arbeitet. "Wäre ich dort gewesen, hätte ich die vergiftete Limonade auch getrunken", sagte sie in einem Interview mit der Zeitschrift Park Avenue. Jahrelang sei sie nicht glücklich gewesen, überlebt zu haben. Im Gegenteil: Sie fühlte sich als Verräterin und Fahnenflüchtige, sie wurde von Schuldgefühlen geplagt.

Aussagen wie diese beschäftigen die Menschen heute noch: Warum folgten derart viele Menschen der wirren Religion eines seit Jahren unter dem Einfluss von Drogen stehenden Mannes? Jones war eine charismatische Persönlichkeit, mit den gescheitelten schwarzen Haaren, der Piloten-Sonnenbrille und der tiefen Stimme wirkte er wie das religiöse Zerrbild von Elvis Presley. Schon die Kinder in der Kleinstadt Crete im US-Bundesstaat Indiana waren verwundert, aber auch fasziniert von dem Jungen, der nicht so war wie sie.

Jones stammte aus ärmsten Verhältnissen, seine Mutter bezeichnete ihn schon im Kindesalter als "Messias" und behauptete, er würde "alles Unrecht in der Welt zurechtrücken". Sein Jugenfreund Chuck Wilmore erinnert sich: "Er war fasziniert von Religion und Tod. Einmal hat er eine Katze erstochen und dann ein Begräbnis abgehalten." Im Alter von 19 Jahren trat er seine erste Stelle als Prediger an. Im Jahr 1956 - Jones war gerade einmal 25 Jahre alt - gründete er eine eigene Kirche: Peoples Temple. Das Weltbild zimmerte er sich aus unterschiedlichen Religionen und Halblehren zusammen, es flossen die Ansichten von Karl Marx, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Fidel Castro und auch Adolf Hitler ein. Jones sprach in seinen oft stundenlangen Predigten vor allem Benachteiligte, Bedürftige und Desorientierte an. Er sagte, was viele dachten. "Jeder in der Gemeinde hatte das Gefühl, aufgrund einer Bestimmung bei ihm zu sein und außergewöhnlich für ihn zu sein", sagt Layton.

Es war verführerisch, was Jones versprach: "Ich stelle das göttliche Prinzip dar, die absolute Gleichheit, eine Gesellschaft, in der alle Menschen ihren Besitz teilen, in der es kein Arm und Reich und keine Rassen gibt. Überall, wo Menschen nach Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit streben, dort bin ich." Durch seine Versprechen, die Mitglieder in eine bessere Welt zu führen, verführte er vor allem die, denen die kapitalistische Welt keinen Ausweg bot.

Das verlorene Paradies

In den siebziger Jahren wurde die Sekte - inzwischen angewachsen auf mehr als 900 Mitglieder - in den Vereinigten Staaten immer stärker angefeindet. Jones wurde von Verwandten der Mitglieder vorgeworfen, dass er Gläubige beider Geschlechter vergewaltigte - obwohl er von Enthaltsamkeit predigte. Seine Reden drehten sich immer mehr um Sexualität denn um Erlösung und Seelenheil. Im Jahr 1973 soll er in einem Park versucht haben, einen Undercover-Agenten der kalifornischen Polizei zu homosexuellen Handlungen zu verleiten. 1977 zog er sich mit seiner Gemeinde in den Nordwesten Guyanas zurück. Er hatte bereits drei Jahre zuvor ein 16 Quadratkilometer großes Anwesen von der guyanischen Regierung gepachtet. Er nannte die Siedlung Jonestown und erklärte sie zum Gelobten Land, in dem es keine Rassendiskriminierung gebe - ein Paradies, in dem eine neue, sozialistische Gesellschaft entstehen könne.

Das Jonestown-Massaker: Charismatisch und verführerisch: der Sektenführer Jim Jones.

Charismatisch und verführerisch: der Sektenführer Jim Jones.

(Foto: Foto: dpa)

"Ihr könnt nicht gehen, ihr seid mein Volk!"

Das Paradies auf Erden glich jedoch eher einem Arbeitslager oder einer Strafgefangenenkolonie. Nahrungsmittel waren von Beginn an nicht ausreichend vorhanden, es gab Fieber-Epidemien und Darmerkrankungen. Die mit Maschinengewehren bewaffneten Wärter sorgten für eiserne Disziplin, aufsässige Mitglieder wurden in Käfige gesperrt, mit Elektroschocks traktiert und bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Potentielle Deserteure wurden mit Drogen ruhiggestellt.

Am 17. November 1978 kam der US-Kongressabgeordnete Leo J. Ryan zusammen mit Journalisten nach Jonestown, um sich über die Zustände im Dorf zu informieren. Jones hatte zunächst versucht, den Besuch zu verhindern. Als das misslang, arrangierte er ein großes Fest, und zunächst schien alles ganz harmonisch zu verlaufen. "Hier sind Leute, die finden, dass die Kolonie das Beste ist, was ihnen in ihrem Leben je passiert ist", sagte Ryan am Abend nach ersten Gesprächen. Die Sektenmitglieder klatschten frenetisch Beifall. Am nächsten Morgen aber, kurz vor der Abreise von Ryan, schlug die Stimmung um. Erst baten einige wenige, dann immer mehr Bewohner von Jonestown darum, mit dem Politiker die Kolonie verlassen zu dürfen. Für Jones war dies offenbar ein unverzeihlicher Verrat. "Ihr könnt nicht gehen, ihr seid mein Volk", rief er den Abwanderungswilligen zu.

Vertraute von Jones eröffneten an diesem Tag das Feuer auf Ryan und seine Begleiter, als diese gerade ihr Flugzeug besteigen wollten. Der Politiker, den zuvor schon ein Sektenmitglied mit einem Messer angefallen hatte, und fünf weitere Menschen wurden zum Teil mit Schüssen aus nächster Nähe ermordet.

Die Ermordung Ryans stellte den Höhepunkt von Jones' Paranoia dar, er fürchtete sich nun vor einer Invasion durch US-Truppen. "Sie werden unsere Alten und Kinder foltern", brüllte er den Mitgliedern zu und forderte sie auf, sich selbst zu töten. Eine Frau, die nicht sterben wollte, erinnerte Jones an sein früheres Versprechen, statt der Selbsttötung in die Sowjetunion überzusiedeln. Auf Tonbändern ist Jones' Antwort festgehalten: "Ja, ich rufe gleich dort an."

Statt einer Rettung jedoch trieb er 913 der 1110 Mitglieder in den Tod. "Beeilt euch, meine Kinder, beeilt euch", soll er immer wieder mit bebender Stimmer gerufen haben, während die Becher mit der vergifteten Limonade verteilt wurden. Zuerst wurden Babys und Kinder getötet, dann die Erwachsenen. Am Ende starb Jones durch einen Kopfschuss. Das Paradies, das es nie gab, war endgültig verloren.

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