Süddeutsche Zeitung

Darry: Fünf tote Kinder, eine kranke Mutter und ein Dorf unter Schock:Wenn alle Spuren in den Abgrund führen

Die Familie war neu im Ort, und sie war Nachbarn, Lehrern und dem Jugendamt aufgefallen - doch erst jetzt erscheint vieles furchtbar schlüssig.

Ralf Wiegand

Als der graue Morgen aufzieht und einen weiteren trüben Tag verheißt, ist nichts besser als in der Nacht zuvor. Es ist nicht einfach nur ein Albtraum gewesen, aus dem das Dörfchen Darry jetzt gnädig erwachen dürfte, am Nikolaustag, an dem doch Kinderaugen leuchten sollten.

Die Kinder, die in Darry an der Hand ihrer Mütter den kleinen Hügel zur Grundschule hinauftrotten, lachen nicht. Einige haben rot geweinte Augen, und wenn sie wie jeden Morgen durch die Türe ihrer kleinen, freundlich geklinkerten Schule gehen, auf deren Fassade eine Phantasiestadt in Regenbogenfarben gemalt ist, warten Pastoren und Psychologen auf sie.

Seelsorger. Krisenmanager. Tröster. Nein, der Albtraum ist die Realität, mit der das Dorf Darry nun leben muss. Fünf Kinder sind hier getötet worden, offensichtlich von ihrer eigenen Mutter, in ihrem eigenen Haus. Die Schulleiterin sagt, "an Unterricht ist nicht zu denken", und dabei kann sie die Tränen nicht zurückhalten.

Kaum zwei Minuten Fußweg entfernt hat sich in einer kleinen Gasse vor dem Haus Nummer 9 ein Pulk von Menschen versammelt. Katastrophen schwemmen die Medien auch an die entlegensten Orte, und Darry, Ortsteil von Panker im Kreis Plön, tief in Schleswig-Holstein, ist ein entlegener Ort.

Das Häuschen, in das die Familie vor noch nicht allzu langer Zeit eingezogen ist, nachdem sie zuvor im nahen Preetz gelebt hatte, macht keinen guten Eindruck. Die Farbe blättert von der grünen Eingangstür, über deren Schloss das Polizeisiegel geklebt ist, mit dem die Ermittler einen Tatort vor unbefugtem Zutritt sichern.

In den Blumentöpfen wehren sich Primeln gegen den Winter, und vor der Garage türmt sich eine Lkw-Ladung Sperrmüll. Angeblich gehört der Unrat dem Vormieter, haben Nachbarn erzählt. "Ich kann das nicht bestätigen", sagt Wolf Schmidt, Sprecher der Polizei Kiel: "Hier brodelt die Gerüchteküche."

Hilferufe des Vaters

Das Wenige, was man weiß: Am Mittwoch, kurz nach 15 Uhr, alarmiert ein Arzt den Notruf der Polizei. Bei ihm, so der Mediziner, habe sich eine Frau gemeldet, die ein Verbrechen begangen habe. Was die Beamten dann in dem 400-Seelen-Nest im Nirgendwo vorfinden, wird das Leben in der kleinen Gemeinde für lange Zeit verändern. Im Haus liegen die leblosen Körper von fünf Kindern, alles Jungen, drei bis neun Jahre alt.

Nun beginnt der Albtraum, mehr Polizei, Blaulicht, die Kripo schließlich, ein Rettungshubschrauber, der niemanden mehr retten kann. Die Beamten verhängen die Fenster.

Am Abend eine erste Radiomeldung, um 20.13 Uhr die Eilmeldung über die Nachrichtenagenturen: Fünf tote Kinder in Schleswig-Holstein, dort, wo auf sanften Hügeln stämmige Pferde weiden und wo Kinder auf der Straße Ball spielen. Man denkt: Hier sterben Kinder nicht, hier sind sie glücklich.

Um 23.30 Uhr werden die fünf Kinderleichen aus dem Haus Nummer 9 gebracht und nach Kiel zur Obduktion.

In Kiel ist die Politik schon in der Nacht alarmiert. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) und Innenminister Ralf Stegner (SPD) verfassen eine gemeinsame Erklärung, Trauer, Entsetzen, so etwas.

Stegner tritt vor die Kameras, sichtlich schockiert. Da gebe es "viele Fragen, die aber im Moment nicht zu beantworten sind". Fragen, die zuletzt oft gestellt werden mussten in Deutschland. Fragen an die Politik.

Es ist Kindern zu viel passiert in den letzten Wochen und Monaten, was die Politik vielleicht hätte verhindern können. In Schwerin verhungerte Lea-Sophie, dem Jugendamt bekannt.

In Bremen läuft der Prozess gegen den Ziehvater des zweijährigen Kevin, einem Mündel des Jugendamts. Und erst am Mittwochmorgen, dem Tag der toten Kinder von Darry, war im sächsischen Plauen der Fall einer 28-jährigen Frau bekannt geworden. Sie soll im Lauf der letzten Jahre drei Säuglinge getötet haben.

Auch die fünf Jungen aus Darry, ihre 31 Jahre alte Mutter Steffi B. und deren Ehemann waren den Behörden in der Kreisstadt Plön bekannt. Demnach sei, sagt Siegrid Tenor-Alschausky, Vorsitzende des Sozialaussschusses des Landtages von Schleswig-Holstein, "für die Familie trotz des Umzuges nach wie vor das gleiche Jugendamt zuständig". Auch darüber ließ sich der Ausschuss vom zuständigen Staatssekretär informieren.

Der Mutter und ihren fünf Söhnen ging es offenbar nicht gut. Sie lebten in bescheidenen, dem Zustand des Hauses nach sogar ärmlichen Verhältnissen. Die Kinder stammen von zwei Ehemännern. Mit dem Vater der jüngsten drei Kinder, so sagte eine Mitarbeiterin des Allgemeines Sozialen Dienstes (ASD) in Plön, habe die Frau bis zum Tag vor der Tat zusammengelebt.

Beide Männer seien geschockt und in ärztlicher Betreuung. Der jetzige Ehemann habe sich liebevoll um die Kinder gekümmert, selbst um Hilfe bei den Behörden nachgesucht und den Kontakt gehalten. Für Mittwoch war der Besuch einer Familienhelferin vorgesehen. Dazu kam es nicht mehr.

Erstaunlich schnell nach der Tat lieferte die Polizei ein Motiv: Die Frau sei psychisch krank. Ihre Erkrankung war wohl deshalb so schnell klar, weil sie nicht irgendeine "medizinische Einrichtung" anrief, nachdem die Kinder tot waren, wie die Staatsanwaltschaft zunächst mitteilte.

Sie ging in die psychiatrische Fachklinik in Neustadt und bat um Einweisung. Beim Aufnahmegespräch mit dem Arzt sagte sie, sie habe ihre Kinder getötet.

Seit einiger Zeit schon sei der öffentliche Gesundheitsdienst über die psychische Krankheit der Frau informiert gewesen und habe zu ihr Kontakt gehabt, sagt Tenor-Alschausky.

Ob es einen Austausch zwischen Jugend- und Gesundheitsamt gab? "Den gab es", sagt Petra Ochel, Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Kreises, knapp. Mit dem Kinderschutzgesetz, das in Schleswig-Holstein von April 2008 an gelten wird, soll auch dieser Punkt verbessert werden: "Wir müssen eine Vernetzung der örtlichen Strukturen erreichen", sagt Irene Johns, Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes in Schleswig-Holstein.

Psychisch kranke Erwachsene würden in ihrer Rolle als Erzieher von Kindern zu wenig berücksichtigt. Bei psychologischer Behandlung, sagt Johns, müsse künftig standardmäßig die Jugendhilfe einbezogen werden. Im aktuellen Fall, räumte Petra Ochel ein, habe das Augenmerk "dem Zustand der Mutter" gegolten.

Dass das Plöner Jugendamt grobe Fehler gemacht haben könnte, kann sich Johns nicht vorstellen: "Gerade dieses Amt", sagt sie "kenne ich gut. Es sind sehr engagierte Mitarbeiter." Allerdings stiegen überall im Land seit 1985 die Fallzahlen - die Zahl der Fachkräfte nicht

Ein Bürgermeister in Uniform

In der Kreisstadt Plön ahnen die Behörden am Donnerstagmittag, was auf sie zurollen könnte. Die Berichte verdichten sich, dass die Kinder aus Darry in der Schule aufgefallen waren.

Ein Mitschüler erzählt, einer der Jungen habe manchmal nur eine dünne Jacke oder gar keine getragen und meistens auch kein Pausenbrot mitgebracht, lange Haare habe er auch gehabt, "das fand ich schon komisch". Andere angebliche Nachbarn hatten noch am Tatabend die Jungs gar als "verwahrlost" bezeichnet, eine Lehrerin sah eines der Kinder in Hausschuhen zur Schule kommen.

Am Mittwoch hätten die Kinder gefehlt. Wenn es eine Tragödie mit Ansage war, dann wird es viele Fragen geben. Der Landrat verschiebt die für Mittag angesetzte Pressekonferenz sicherheitshalber um etliche Stunden. Um selbst Antworten finden.

Am Nachmittag im Kreisfeuerwehrhaus gibt er sie. Landrat Volkram Gebel trägt vor, was er den Tag über recherchiert hat. Demnach war die Familie B. 2005 aus dem Nachbarkreis Ostholstein zunächst nach Preetz, später nach Darry gezogen.

Schon vor zweieinhalb Jahren wendete sie sich an den ASD, es ging zunächst nur um die Wohnungssuche. Seit August 2007 waren dem ASD auch die Zustände in der Familie bekannt, der Vater hatte eine Nachbarin beauftragt, die Behörde zu informieren. Eheprobleme spielten eine Rolle, der Mann berichtete von religiösen Phantasien seiner Frau.

Man blieb in Kontakt, der Sozialpsychiatrische Dienst besuchte die Familie, fand aber "keine akute Krisensituation" vor, sagt die Leiterin Petra Ochel. Auch bei allen folgenden Kontakten sei eine Kindeswohlgefährdung nicht festzustellen gewesen, habe man keinen verwahrlosten Haushalt vorgefunden, sei die Frau stabil gewesen. Die Anzeichen für eine psychische Erkrankung, womöglich eine schizophrene Psychose, seien aber deutlich erkennbar gewesen.

Allerdings berichtet der Landrat auch von Meldungen aus den Kindergärten und der Schule, wonach die Jungs keinen gesunden Eindruck machten. Im August fürchtet eine Kindergärtnerin, die Eltern könnten mit der Betreuung überfordert sein.

Bei einem Hausbesuch bitten die Eltern aber lediglich um eine Haushaltshilfe. Spiegel online berichtete von einer Homepage, die die Mutter führte und auf der sie von einem Chromosomendefekt ihres jüngsten Sohnes schrieb und von der Last damit. Auch ein zweites Kind soll behindert gewesen sein. Die Seite ist jetzt gesperrt.

Olaf Arnold ist Bürgermeister der Gemeinde Panker, zu der Darry gehört; das ist normalerweise ein recht gemütliches Amt. Zumindest war das die Illusion. Aber am Mittwochabend steht das Telefon bei Arnold nicht mehr still. Bürger rufen ihren Bürgermeister an, "weil sie weinend zu Hause sitzen und nicht wissen, wie sie das ihren Kindern erklären sollen".

Im Ort kursieren über die Familie, in der die Tat geschah, schnell viele Gerüchte, aber eigentlich kannte sie kaum jemand. Die Frau habe zurückgezogen gelebt. "Wir haben uns nie vorstellen können, dass so etwas bei uns passiert", sagt Stefanie Arnold, die Frau des Bürgermeisters. Wahrscheinlich hat sich auch niemand vorstellen können, wie allein man in solch einem Dorf sein kann. Jeder mag hier jeden kennen - deswegen aber weiß man noch nichts vom anderen.

Irgendwann zwischen Dienstagabend und Mittwochnachmittag ist es dann passiert. Die Mutter, das ergaben die Obduktionen, hat ihre Kinder zunächst ein Schlafmittel verabreicht und dann erstickt. Danach ging sie in die Klinik und offenbarte sich.

Sie wurde noch am Mittwoch in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht. Michael Schulte-Markwordt, Präsident der deutschen Gesellschaft für Jugendpsychiatrie von der Hamburger Uniklinik Eppendorf, geht davon aus, dass die Frau in einem akuten psychotischen Schub getötet haben muss, so ungewöhnlich sei die Tat. Womöglich habe sie die Kinder als Bedrohung wahrgenommen; sie könnte Stimmen gehört haben, die ihr die Tat befahlen. Bei Schizophrenie sei eine Eskalation immer möglich.

In Darry ist nun alles anders. Der Ort, die hübschen Häuschen, die Weiden und Wiesen, die Bauernhöfe, die intakten Vereine und die saubere Schule - dass die Welt mit ihren Schrecken nicht bis hierher reichen würde, war ein Trugschluss. Alles ist überall denkbar, nirgendwo ist die Sicherheit absolut. Olaf Arnold, der Bürgermeister des Dorfes, erfährt dies hautnah. Seinen Job als Ortsvorsteher macht er ehrenamtlich, im Berufsleben ist er Polizist. Am Donnerstag muss der Bürgermeister in Uniform den Tatort sichern, in der eigenen Nachbarschaft.

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SZ vom 07.12.2007/jkr
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