Dänemark:Ende einer 70-jährigen Reise

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Menschen-Experiment - mit dramatischen Folgen: 22 Kinder aus Grönland sollten 1951 zu einer Elite umerzogen werden. (Foto: Nikolai Linares/imago images/Ritzau Scanpix)

Einst stahl Dänemark 22 grönländische Kinder ihren Familien, um sie zu einer Elite zu formen. 70 Jahre später bekommen die Überlebenden eine Entschuldigung und eine Entschädigung.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Lange haben sie auf diesen Tag gewartet, auf dieses Wort. Ein Menschenleben lang, 70 Jahre, um genau zu sein. Und jetzt? Glücklich sei sie, sagt Helene Thiesen am Telefon. "Sie hat es tatsächlich gesagt." Mette Frederiksen stand vor Thiesen und fünf weiteren Grönländern, die 1951 als Kinder nach Dänemark verschleppt worden waren, und sagte: "Entschuldigung". Die dänische Premierministerin war gekommen, um sich zu entschuldigen dafür, dass der dänische Staat ihnen das Leben gestohlen hatte.

Wie beziffert man das, wenn einem die Familie genommen wurde, die Muttersprache, die Heimat, wie viel Wiedergutmachung ist so ein gestohlenes Leben wert? Sind 250 000 Dänische Kronen, umgerechnet 34 000 Euro, eine angemessene Summe? Ach, das Verlorene wiedergutmachen, das gehe ohnehin nicht, sagt Helene Thiesen. Aber den Fehler eingestehen. Die Verantwortung dafür tragen, dass man sie und die anderen Kinder einst verschleppt hat, weg aus ihrer Heimat Grönland, übers Meer ins fremde Dänemark. Das hätte eigentlich längst drin sein müssen, oder?

Der dänische Staat tat sich lange schwer mit der Reue. Und hätte es am Ende beinahe noch verkorkst: Die Entschädigungszahlung verweigerte die Regierung zunächst, erst als Thiesen und die anderen vor Gericht zogen, kam eine Einigung zustande, das ist gerade mal zwei Wochen her.

"Falsch, unmenschlich und herzlos": Premierministerin Mette Frederiksen bei einer Zeremonie für die Grönländer, die als Kinder verschleppt wurden. (Foto: Liselotte Sabroe/AFP)

Am Mittwoch war es so weit. Empfang im Nationalmuseum in Kopenhagen, Frederiksen war da und der Regierungschef von Grönland, Múte B. Egede. Ihretwegen. Im Saal saßen da nur noch sechs von ihnen, alle älter als 75 Jahre. Sechs von einst 22. Sie alle waren Teil eines Experimentes: Der dänische Staat hatte ein Schiff nach Grönland geschickt im Mai 1951 und sie ihren Familien entrissen, 22 Kinder zwischen vier und acht Jahren, aus denen man die künftige Elite der damaligen Kolonie formen wollte, man kann das nachlesen in den Akten: Zu besseren Menschen wollte man die auserwählten Grönländer machen - also zu Dänen.

Ein gutes Leben hatten hernach die wenigsten. Man hatte ihnen Dänisch beigebracht und dafür das Grönländische ausgetrieben, nicht einmal mit ihren Müttern konnten sie sich mehr unterhalten nach der Rückkehr. Manche kämpften ihr Leben lang mit Alkohol und Drogen, mit psychischen Problemen. Einige nahmen sich das Leben. "Wir Überlebenden waren die Starken", hatte Kristine Heinesen der SZ Ende vergangenen Jahres gesagt. "Die anderen hat das Experiment aus der Bahn geworfen."

Als Mette Frederiksen ans Mikrofon trat, fand sie starke Worte. "Sie all dem auszusetzen war falsch, unmenschlich und herzlos", sagte die Premierministerin. "Deshalb sagt Dänemark heute das einzig angemessene Wort: Entschuldigung." Der grönländische Regierungschef Egede sprach auch. Man hätte sie nicht so lange warten lassen dürfen, sagte er. Ein Vertreter Grönlands verteilte eine Postkarte an jeden der sechs. "Vorne drauf ein Eisbär", sagt Helene Thiesen. "Und hinten eine Entschuldigung." Dann sang eine grönländische Sängerin. "Kristine und ich", sagt Helene Thiesen, die heute 77 Jahre alt ist, "haben uns an der Hand gehalten und geweint." Mit am Tisch im Nationalmuseum saß auch ihre Schwester Victoria; damals war sie mit der Mutter am Kai gestanden in Nuuk, um dem Boot mit der fünfjährigen Helene nachzusehen, das am Horizont verschwand.

Die sechs hatten aus ihrer Mitte die heute ebenfalls 77-jährige Eva Illum ausgewählt, für sie eine Rede zu halten. "Eine Reise ist bald zu Ende", sagte Illum. "Eine Reise, die 70 Jahre gedauert hat." Helene Thiesen, die ihr Leben in Dänemark gelebt hat, sagt, sie packe gerade die Koffer. Sie fliegt nach Nuuk, in die Hauptstadt Grönlands, gleichzeitig mit Mette Frederiksen, die nun auch Nuuk besuchen wird, um dort am kommenden Dienstag sich noch einmal zu entschuldigen, diesmal im Kreise der Familien der einst Verschleppten. "In Nuuk bin ich geboren", sagt Helene Thiesen. "In Nuuk hat die Geschichte begonnen. Und in Nuuk wird sie enden."

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